Denkwürdigkeiten des Pickwick-Klubs. Charles Dickens

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Denkwürdigkeiten des Pickwick-Klubs - Charles Dickens

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ihrem Trübsal beigestanden, sie von einer Welt voll Elend und Jammer zu erlösen und das Leben ihres einzigen Kindes zu schonen. Darauf folgte ein Ausbruch des Schmerzes und ein Kampf, wie ich ihn in meinem Leben nicht mehr zu erleben hoffe. Ich sah, daß ihr Herz in dieser Stunde für immer brach, aber niemals trat wieder eine Klage oder ein Murren über ihre Lippen.

      Es war ein trauriger Anblick, das Weib Tag für Tag in den Gefängnishof gehen zu sehen, um das harte Herz des verstockten Sohnes mit den heißen Bitten der Mutterliebe zu erweichen. Sie mühte sich umsonst. Er blieb verschlossen, starrköpfig und ungerührt. Nicht einmal die unvorhergesehene Verwandlung seiner Todesstrafe in vierzehnjährige Strafverschickung konnte seinen Starrsinn auch nur auf einige Augenblicke beugen.

      Aber der Geist der Ergebung und Standhaftigkeit, der sie solange aufrechterhalten hatte, vermochte der körperlichen Schwäche und Entkräftung nicht mehr zu widerstehen. Sie fiel krank darnieder. Noch einmal wollte sie ihren Sohn besuchen und wankte mit ihren zitternden Gliedern aus dem Zimmer, aber die Kräfte verließen sie und sie sank ohnmächtig zu Boden.

      Jetzt wurde der Gleichmut des jungen Mannes, womit er geprahlt halte, wirklich auf die Probe gestellt, und dir Vergeltung, die über ihn kam, war von der Art, daß sie ihn beinahe wahnsinnig machte. Ein Tag verfloß, und seine Mutter war nicht da; ein anderer ging vorüber, und sie kam nicht zu ihm. Der dritte Abend verging, und noch hatte er sie nicht gesehen, und in vierundzwanzig Stunden sollte er von ihr getrennt werden – vielleicht auf immer.

      Wie tauchten die langvergessenen Erinnerungen an die früheren Tage in seinem Geiste auf, wenn er im schmalen Hofe seines Gefängnisses auf und ab schritt, als müßte seine Eile die ersehnten Nachrichten um so schneller herbeilocken – und wie bitter war das Gefühl seiner hilflosen Lage und Verlassenheit, das in ihm aufstieg, als er die Wahrheit vernahm! Seine Mutter, die einzige Verwandte, die er je gekannt hatte, lag krank darnieder – vielleicht in den letzten Zügen –, kaum eine Viertelstunde von ihm entfernt. Wäre er frei und fessellos, in wenigen Minuten stünde er an ihrer Seite. Er ging ans Gitter und rüttelte an den Eisenstäben mit der Kraft der Verzweiflung, bis sie erklirrten, und stemmte sich gegen die dicke Mauer, als müßte er durch das Gestein dringen; aber das Gebäude spottete seiner schwachen Anstrengungen. Er schlug die Hände zusammen und weinte wie ein Kind.

      Ich brachte dem Sohne die Verzeihung und den Segen der Mutter in das Gefängnis, und der Kranken seine feierliche Versicherung der Reue und seine flehentliche Bitte um Vergebung vor das Sterbebett. Ich hörte mit innigem Mitleiden den Reuigen tausend Pläne entwerfen, wie er seine Mutter unterstützen wollte, wenn er zurückgekehrt wäre; aber ich wußte, daß seine Mutter schon lange aus der Welt geschieden sein würde, wenn er den Art seiner Bestimmung erreicht hätte.

      Er wurde bei Nacht weggebracht. Wenige Wochen nachher schwang sich die Seele des Weibes, wie ich zuversichtlich hoffe und glaube, zu den Statten der ewigen Seligkeit und Ruhe empor. Ich hielt den Totengottesdienst. Sie liegt auf unserm kleinen Kirchhof. Kein Stein erhebt sich über ihrem Grabe. Ihre Leiden waren den Menschen, ihre Tugenden Gott bekannt.

      Es war vor der Strafverschickung des Unglücklichen ausgemacht worden, daß er unter meiner Adresse an seine Mutter schreiben sollte, sobald er die Erlaubnis dazu erhalten würde. Der Vater hatte sich von dem Augenblicke der Verhaftung an bestimmt geweigert, seinen Sohn zu sehen; und es war ihm gänzlich gleichgültig, ob er hingerichtet oder begnadigt würde. Eine Reihe von Jahren ging vorüber, ohne daß man Nachricht von ihm erhielt, und als mehr als die Hälfte seiner Strafzeit verflossen war und ich noch immer keinen Brief erhielt, vermutete ich, er wäre gestorben, was ich beinahe auch hoffte.

      Edmunds war bei seiner Ankunft auf der Insel weit in das Innere des Landes geführt worden, und diesem Umstände mochte es vielleicht zuzuschreiben sein, daß, obgleich viele Briefe an mich abgeschickt wurden, doch keiner in meine Hände kam. Die ganze Zeit seiner Verbannung blieb er an dem gleichen Platze. Nach deren Ablauf kehrte er, seinem Entschlüsse und dem Versprechen, das er seiner Mutter gegeben hatte, getreu, unter unzähligen Schwierigkeiten nach England zurück und langte zu Fuß in seinem Geburtsort an.

      An einem schönen Sonntagabend im Monat August kam John Edmunds zu Fuß in das Dorf, das er vor siebzehn Jahren in Schmach und Schande verlassen hatte. Sein Weg führte ihn über den Kirchhof. Die schlanken alten Ulmen, durch deren Zweige die scheidende Sonne hier und da einen Strom von Licht auf die schattigen Pfade goß, erweckten in ihm die Erinnerung an seine frühesten Tage. Er stellte sich vor, wie, er damals an seiner Mutter Hand friedlich zur Kirche wallte. Er erinnerte sich, wie er zu ihr emporzuschauen pflegte in ihr blasses Gesicht; und wie ihre Äugen sich bisweilen mit Tränen füllten, wenn sie in seine Züge blickte – Tränen, die auf seiner Stirne brannten, wenn sie stehen blieb, um ihn zu küssen, und ihn gleichfalls weinen machten, ob er schon nicht ahnte, warum ihre Tränen so bitter waren. Er dachte daran, wie oft er mit einigen Spielkameraden lustig den Pfad durchlaufen hatte, wie er sich dabei alle Augenblicke rückwärts wandte, um das Lächeln seiner Mutter zu sehen oder den Ton ihrer süßen Stimme zu hören. Ein Schleier schien von seinem Gedächtnisse weggezogen zu sein, und Worte unerwiderter Liebe, verachtete Warnungen und gebrochene Versprechen drangen sich seiner Erinnerung auf, bis sein Herz zu brechen drohte, und er es nicht länger ertragen konnte.

      Er trat in die Kirche. Der Nachmittagsgottesdienst war vorüber, und die Gemeinde hatte sich verlaufen, aber es war noch nicht geschlossen. Seine Tritte hallten in der niederen Wölbung wieder. Ein Schauer überfiel ihn, wenn er daran dachte, daß er allein sei, so still und ruhig war es. Er sah sich um. Nichts war verändert. Der Raum kam ihm kleiner vor als früher. Aber es waren noch die alten Grabmäler, auf denen sein Auge tausendmal mit kindischer Scheu verweilt hatte. Die kleine Kanzel mit ihren verblichenen Kissen, der Altar, vor dem er so oft die Gebete hergesagt, die er als Knabe verehrt und als Mann vergessen hatte. Er trat an den alten Kirchenstuhl; er hatte ein kaltes und düsteres Aussehen. Das Kissen war fort, und die Bibel lag nicht mehr da. Vielleicht nahm seine Mutter jetzt einen geringeren Stuhl ein, oder war sie zu schwach geworden, um die Kirche allein besuchen zu können. Er wagte es nicht, an das zu denken, was er fürchtete. Ein kalter Schauer überlief ihn, und er zitterte heftig, als er sich wegwandte.

      Ein alter Mann trat eben zur Kirchtüre herein, als er hinauswollte. Edmunds bebte zurück, denn er kannte ihn wohl: manchmal hatte er ihm zugesehen, wie er ein Grab im Kirchhof grub. Was mag wohl der Greis zu dem Unglücklichen gesagt haben? Er starrte dem Fremden ins Gesicht, bot ihm guten Abend und ging langsam an ihm vorbei. Er hatte ihn vergessen.

      Er schritt die Anhöhe hinab durch das Dorf. Das Wetter war warm, und die Einwohner saßen vor ihren Haustüren oder ergingen sich in ihren Gärten, um sich von der Arbeit zu erholen und den heiteren Abend zu genießen. Manche Blicke sahen ihm nach, und oft schielte er verstohlen auf die Seite, um zu sehen, ob ihn jemand erkenne und ihm absichtlich aus dem Wege gehe. Es waren beinahe lauter fremde Gesichter; bisweilen erkannte er die stattliche Gestalt eines alten Schulkameraden, der noch Knabe gewesen, als er ihn zum letzten Male gesehen hatte, von einer Schar lustiger Kinder umgeben. Dann sah er einen schwachen, entkräfteten Greis, dessen er sich noch als eines gesunden, rüstigen Arbeiters erinnerte, in einem behaglichen Lehnstuhl vor seiner Haustür sitzen. Aber sie hatten ihn alle vergessen, und er ging unerkannt vorüber.

      Die letzten milden Strahlen der scheidenden Sonne fielen auf die Erde, warfen ihren feurigen Glanz auf das wogende Kornfeld und verlängerten die Schatten der Fruchtbäume des Gartens, als er vor dem alten Hause stand: der Heimat seiner Kindheit, nach der er sich während der ganzen langen Jahre seiner Gefangenschaft und seines Elends so unbeschreiblich gesehnt hatte. Die Umzäunung war niedrig, wiewohl er sich der Zeit noch erinnerte, wo sie ihm wie eine hohe Wand vorgekommen war, und er sah über sie in den alten Garten. Er erblickte mehr Pflanzen und schönere Blumen, als sonst hier zu finden waren. Aber die Bäume waren noch die alten – derselbe Baum, unter dem er tausendmal im Schatten gelegen, wenn er des Spielens in der Sonne überdrüssig war, unter dem ihn so oft der sanfte Schlaf der glücklichen Kindheit befallen hatte. Er hörte Stimmen im Hause. Er lauschte, aber sie schlugen fremdartig

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