Chefarzt Dr. Norden Box 4 – Arztroman. Patricia Vandenberg
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»Feelein! Was kann ich für dich tun?« Ganz im Gegensatz zu Volker Lammers hatte er die Dr. Mia Paulsen sofort vergessen und verließ die Halle mit dem Telefon am Ohr.
Volker dagegen wartete in seinem silbergrauen Allerweltswagen am Straßenrand. Feierabend. Er hatte alle Zeit der Welt, um seine Umwelt zu beobachten.
*
Der Zustand ihrer ehemaligen Haushälterin bereitete Fee Norden Kopfzerbrechen. Die Erfahrung zeigte fast jeden Tag aufs Neue, dass Wunden bei gestressten Patienten oft deutlich schlechter heilten als bei entspannten. Das konnten selbst Wissenschaftler bestätigen, die herausgefunden hatten, dass Rötungen, Schwellungen und Schmerzen im Bereich einer Wunde bei fast der Hälfte aller unglücklichen Menschen vorkamen. Zudem gab es Hinweise, dass Menschen in einer Beziehung mit aggressivem Umgangston wesentlich später gesund wurden als Menschen in harmonischen Beziehungen.
»Und dass Lenni alles andere als harmoniebedürftig ist, ist ein offenes Geheimnis«, murmelte Felicitas vor sich hin. Inzwischen war sie vor Julius’ Krankenzimmer angekommen. Zeit, sich auf ihren Patienten zu konzentrieren.
Emil Steinhilber begrüßte sie wie einen alten Freund. Julius dagegen sah kaum hoch. Als wäre nichts geschehen, lag er im blau-weiß gestreiften Bett. Der Zugang an seiner linken Hand war mit einem Pflaster auf dem Handrücken festgeklebt. Ein durchsichtiger Schlauch führte hinauf zum Infusionsbeutel. Mit der rechten Hand tippte er unverdrossen auf seinem Handy herum.
»Ich hoffe, Sie haben gute Nachrichten für uns.« Emil Steinhilber sah seine ehemalige Studentin an.
Fee rang sich ein Lächeln ab.
»Der Eingriff verlief wie erwartet, der Bruch ist versorgt.«
»Hast du gehört?« Emil klopfte auf den meerblauen Gips seines Enkels. »Du kannst deinen Arm bald wieder bewegen.«
»Hoffentlich. Ich muss ja scootern.« Der Junge machte sich noch nicht einmal die Mühe, vom Bildschirm aufzusehen.
Fees Herz wurde schwer.
»Dass Julius die Finger nicht bewegen konnte, hat leider nichts mit dem Bruch zu tun.«
»Das verstehe ich jetzt nicht ganz.« Emil stemmte die Hände in die Hüften.
Er musterte sie von oben herab. »Sie sagten doch, die Operation sei gut verlaufen.«
»Das ist richtig. Leider hat die Befundung des MRTs ergeben, dass Jonas an einer vermutlich angeborenen Einengung eines Wirbelkanals leidet. Eine der Nervenwurzeln wird zusammengedrückt.« Obwohl sie die Diagnose kannte, nahm sie das Tablet und berührte mehrmals den Bildschirm. »Die Bewegungsprobleme der Hand rühren nicht von dem Bruch, sondern von diesem verengten Nervenwurzelkanal.«
»Moment mal.« Alle Freundlichkeit war aus Emil Steinhilbers Gesicht verschwunden. »Aber er hatte doch vorher keine Probleme. Nicht wahr, Julius?«
Julius’ Blick klebte an seinem Handy. Er nickte so mechanisch wie die kleinen Figuren, die über den Bildschirm hopsten.
»Ich gehe davon aus, dass er das taube Gefühl einfach ignoriert hat. Der Sturz hat die Problematik allerdings verschlimmert.«
»Und was kann man dagegen tun?« Emils Pupillen färbten die Iris schwarz.
Fee klickte sich durch die Bilder, ehe sie das Tablet ausschaltete und auf das Bett legte.
»Da leider keine Chance auf eine spontane Besserung besteht, müssen wir noch einmal operieren.«
»Am Rückenmark?« Emil schüttelte den Kopf. »Ausgeschlossen. Dieses Risiko ist viel zu hoch.«
Dieser Widerspruch wunderte Felicitas nicht. Schon im Vorfeld hatte sie sich Gedanken darüber gemacht, wie sie an seiner Stelle reagiert hätte. Mit dieser Vorgeschichte. Nicht für viel Geld wollte sie mit ihrem ehemaligen Dozenten tauschen.
»Ich verstehe Ihre Sorge. Auf der anderen Seite können wir nicht zulassen, dass Julius’ Stenose schlimmer wird. Er ist noch so jung. Viel zu jung für eine dauerhafte Einschränkung.«
Emil Steinhilber fuhr sich über die Augen. Plötzlich wirkte er wie der alte Mann, der er tatsächlich war.
»Gibt es denn keine Alternativen?« Seine Stimme hatte ihre jugendliche Leichtigkeit verloren.
»Das Problem an der Sache ist, dass Wirbelsäulenstenosen normalerweise eine Alterserscheinung sind«, erklärte Felicitas. »Bei Senioren wird meist auf einen operativen Eingriff verzichtet. Die symptomatische Behandlung steht im Vordergrund. Dabei sind Schmerz- und Cortisonspritzen das Mittel der Wahl.« Sie schüttelte den Kopf. »Aber in Julius’ Fall hat das wenig Sinn. Er leidet bereits unter motorischen Ausfällen. Und das in seinem Alter! Da haben Kinder doch wahrlich andere Probleme.« Unwillkürlich gaukelte ein Bild durch ihren Kopf. Sie sah sich selbst – ein kleines Mädchen, das weißblonde Haar zu Affenschaukeln geflochten –, wie sie wie ein Äffchen an den Beinen des Vaters hing und um ein Eis bettelte. Lebenswichtig war das damals gewesen. Sie seufzte. Manchmal wünschte sie sich die Probleme und Sorgen ihrer Kindheit zurück.
Emil hatte ihr Schweigen genutzt, um sich mit seinem Enkel zu unterhalten. Als er sich wieder aufrichtete, drückte er die Hände in den Rücken. Seine Miene war entschlossen.
»Wir versuchen es erst einmal mit den Spritzen.«
Felicitas Norden machte gar nicht erst den Versuch, ihr Bedauern zu verbergen.
»Ihre Entscheidung«, seufzte sie und ging zur Tür. Die Hand auf der Klinke drehte sie sich noch einmal um. »Wenn Sie wollen, dass ich Julius dauerhaft helfe … Sie wissen, wo Sie mich finden können.« Sie nickte Emil Steinhilber zu und verließ das Zimmer.
*
»Bereit für die nächste Behandlung?«, fragte Dr. Norden, der schwungvoll in sein Büro eingebogen war.
Andrea Sander zuckte zusammen. »Meine Güte, Sie dürfen eine alte Frau nicht so erschrecken.« Sie presste die Hände auf ihr Herz.
»Alte Frau?« Daniel sah sich um. »Wo?« Er drehte sich um die eigene Achse. »Ich kann keine sehen.«
»Sie Schmeichler.«
»Und Sie sind eine Tagträumerin.« Dr. Norden trat an den Schreibtisch und versuchte, den Ausdruck in Andreas Augen hinter den dunkel getönten Brillengläsern zu erkennen. Vergeblich. »Oder können Sie gar nicht anders als träumen, weil Sie nichts sehen?« Er machte die Probe auf’s Exempel und winkte sie mit sich in sein Büro.
Ohne Zögern stand Andrea Sander auf, griff nach einer Akte und folgte ihm. Daran konnte es also nicht liegen.
»Das hier hat Herr Kremling für Sie abgegeben«, sagte sie leise. So verhalten war sie doch sonst nicht.
»Kremling?« Daniel sah sie verwundert