Chefarzt Dr. Norden Box 4 – Arztroman. Patricia Vandenberg
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Das EKG piepte gleichmäßig. Einem Blasebalg gleich pumpte das Beatmungsgerät durch einen Tubus Luft in die Lunge des kleinen Patienten auf dem Operationstisch. Die Anästhesistin beantwortete die stumme Frage der Kinderärztin mit einem Nicken. Fee beugte sich wieder über das Operationsfeld. Ihr Blick streifte Lammers’ Hände. Künstlerhände, ging es ihr durch den Sinn. Ein Künstler war er tatsächlich. Leider nur auf seinem Spezialgebiet, der Kinderchirurgie. Ansonsten ließ er jede Eigenschaft vermissen, die man einem Künstler zuschrieb. Sensibilität, Fantasie, Neugier, Leidenschaft … All das waren böhmische Dörfer für den ungeliebten Kollegen, der nichts anderes im Sinn hatte, als ihr ihren Platz als Chefin der Pädiatrie streitig zu machen.
Zu Fees Leidwesen hatte sich an diesem Nachmittag kein anderer Arzt für die Operationsassistenz gefunden. Einen kurzen Moment hatte sie an Sabotage gedacht, diesen Gedanken aber schnell wieder aus ihrem Kopf verbannt. An der Behnisch-Klinik arbeitete ein Team aus Ärzten und Schwestern Hand in Hand, um die besten Ergebnisse für die Patienten zu erzielen. Keine Feinde, wie Volker Lammers sie immer wieder vermuten ließ. Wenn sie nur lange genug dagegen hielt, würde er irgendwann klein beigeben. Davon war Felicitas Norden zutiefst überzeugt. Selbst, wenn diese Überzeugung manchmal wankte. Wie in diesem Moment.
»Warum behandeln Sie den Bruch eigentlich nicht konservativ?«, fragte er in ihre Gedanken hinein.
Felicitas umklammerte die Pinzette, die zuerst angenehm kühl in ihren Fingern gelegen hatte. Inzwischen hatte das Metall fast Körpertemperatur angenommen. Wenn Lammers sie weiter ärgerte, würde es demnächst glühen.
»Sie sehen doch selbst, dass die Bruchstücke des Olekranoms verschoben sind. Allein diese Tatsache schließt eine Heilung ohne Operation aus. Oder verfügen Sie über Geheimwissen, das mir bislang verborgen geblieben ist?«
»Das mit Sicherheit.« Lammers’ Gesichtsmaske blähte sich, als er lachte. »Aber ich finde, Sie machen das sehr gut. Diese Zuggurte aus Kirschnerdraht. Die haben Sie sehr schön an den gebrochenen Enden fixiert. Trotzdem sollten Sie nach der OP ein MRT anfertigen lassen.«
»Vielen Dank für den Hinweis«, presste Felicitas durch die Lippen. Warum nur erlaubte sie es ihm immer wieder zu bewirken, sich in seiner Gegenwart wie ein Schulmädchen zu fühlen? Sogar ihr ehemaliger Dozent Steinhilber hatte sie durchschaut. »Aber der Patient ist bereits angemeldet. Die Bewegungseinschränkung von Julius’ Arm hat nämlich mit der Fraktur nichts zu tun.«
»Ah, deshalb also das große Blutbild.« Lammers’ Augen über der Maske wurden kugelrund. Ein untrügliches Zeichen dafür, dass er sich über seine Chefin lustig machte. »Sie vermuten eine neurologische Einschränkung?«
»Bin ich Ärztin oder Wahrsagerin?« Fee bat die Schwester, ihr den Schweiß von der Stirn zu tupfen. Das Operationsbesteck klirrte, als sie es in die Nierenschale warf. »Machen Sie bitte fertig, Lammers!« Sie nickte in Richtung der Wunde, die, umgeben von grünen Tüchern, unter der Operationslampe leuchtete. »Ich muss noch meine Glaskugel polieren.« Ohne eine Antwort abzuwarten, rauschte sie aus dem Operationssaal.
Hier und da war ein unterdrücktes Kichern, ein Schnauben hinter den Masken zu hören. Dr. Lammers schickte einen furchterregenden Blick in die Runde. Schlagartig wurde es still im OP. Nur das Schnaufen und Piepen der Überwachungsgeräte war zu hören, als sich Volker Nadel und Faden reichen ließ.
*
Schwerfällig ließ sich Oskar Roeckl auf die Bank am Ufer des Kleinhesseloher Sees fallen. Es war ein schöner, aber kühler Tag im Herbst. In einer Art Torschlusspanik zog es die Menschen noch einmal nach draußen, bevor der November mit seinen Herbststürmen, Schauern und Gewittern über die Lande zog. Vom nahen Biergarten wehten Stimmen und Gelächter herüber. Kinder kreischten am Spielplatz. Ein Schwan dümpelte auf dem Wasser, ein Jogger in engen Hosen zog seine Runden auf dem Kiesweg.
Als sich kurz darauf eine ältere Dame zu Oskar auf die Bank setzte, dachte er wieder an Lenni, die jetzt wahrscheinlich frisch operiert war. Der Professor an ihrem Bett hielt vermutlich ihre Hand und die beiden raunten sich Zärtlichkeiten zu. Oskar klammerte sich am splittrigen Holz der Bank fest. So hatte er sich das nicht vorgestellt, als er Lenni vor ein paar Jahren begegnet war. Nie würde er den Zusammenstoß im Klinikkiosk und Lennis Anblick vergessen, auf dem Boden sitzend, ein Meer Sahne auf dem Schoß. Ihre kleinen, blauen Augen hatten wütend gefunkelt. Damals und viele Monate lang empfand er ihre Schroffheit als charmante Eigenheit. Zumal sich hinter der rauen Schale ein butterweiches Herz versteckte.
Doch die Zeiten hatten sich geändert. Oskars Seufzen war tief wie ein Bergwerk.
»Einsamkeit ist eine heimtückische Krankheit.«
Oskar Roeckl hatte die Frau neben sich völlig vergessen. Er zuckte zusammen und starrte sie an. Auch sie schien ihn gar nicht zu sehen. Saß nur da und blickte ins graublaue Wasser. Ein Tretboot schickte glucksende Wellen ans Ufer.
»Man sieht sie nicht. Es gibt keine Medikamente dagegen«, fuhr sie fort. »Und sie frisst uns innerlich auf.«
Oskar nickte langsam.
»Sie sprechen mir aus der Seele.«
Wie aus einem Traum erwacht, wandte die Frau den Kopf. So ein Gesicht machte Lenni immer, wenn sie Schmerzen hatte. Um ein Haar hätte Oskar sich nach ihrem Wohlergehen erkundigt. Doch sie kam ihm zuvor.
»Darf ich Sie auf eine Tasse Kaffee einladen?« Sie deutete hinüber zum Biergarten.
Oskars Augen folgte ihrem Fingerzeig.
»Ehrlich gesagt wäre mir ein Bier lieber. Wussten Sie, dass Bier vor Fettablagerungen im Herzen schützen kann? Damals, als ich noch als Unternehmer in der Modebranche gearbeitet habe …«
»Ach, Sie waren in der Modebranche tätig?«, unterbrach ihn die Fremde und hielt ihm die Hand hin. »Hannah Bloch, vielleicht haben Sie irgendwann von mir gehört.«
»Hannah Bloch, Hannah Bloch.« Oskar suchte in seinem Gedächtnis nach einer Spur. Eine vage Ahnung stieg in ihm auf. Wie ein lange vergessener Duft. Er spürte förmlich, wie sich die Rädchen in seinem Kopf drehten. Schubladen öffneten und schlossen sich wieder. Bis die richtige an der Reihe war. »Natürlich, Hannah Bloch, die Chef-Designerin von Esmeralda. Der bedeutendsten Modemarke im Deutschland der 80er Jahre.«
Hannah scharrte mit den Füßen im Kies. Beim Anblick ihrer Schuhe musste Oskar lächeln. Sie trug die Sorte Schuhe, die Lenni stets als Hühneraugenfarm bezeichnet hatte. Zum Glück bemerkte Hannah Bloch sein Lachen nicht. Ihre Augen ruhten wieder auf dem Wasser.
»Dass Sie sich daran noch erinnern.«
Oskar räusperte sich und verbannte Lenni so gut es ging aus seinem Kopf.
»Esmeralda war eine unserer besten Marken. Die Kollektionen gingen damals weg wie warme Brötchen.«
Hannah zog eine Augenbraue hoch.
»Interessante Wortwahl.«
Schlagartig fühlte sich Oskar in seine Schulzeit versetzt.
»Tut mir leid. Ein besserer Vergleich ist mir auf die Schnelle nicht eingefallen.«
»Schon gut.« Hannah erhob sich und strich ihren Faltenrock glatt. »Was ist denn jetzt mit meinem Kaffee?«
»Natürlich. Wie unaufmerksam von mir.«