99 Namen Gottes. David Steindl-Rast
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Friede, so verstanden, bezeichnet weit mehr als eine geschichtliche Periode ohne Krieg. Wahrer FRIEDE bedeutet die harmonische Entfaltung der ganzen Fülle des Daseins. So wie in der Musik das Können eines Komponisten dissonante und konsonante Akkorde zu einer höheren Harmonie verbindet, so überbrückt und versöhnt der göttliche FRIEDE alle Widersprüche. Selbst Zwist und Eintracht dienen gemeinsam einem höheren Ganzen. Aus dieser Sicht können wir Gott den FRIEDEN nennen.
Und wir können diesen Frieden nicht nur in geruhsamen Zeiten erleben, sondern gerade auch dann, wenn im persönlichen wie im öffentlichen Leben „Blitz aus Blitz sich reißt“, wie Joseph von Eichendorff singt:
Schlag mit den flamm’gen Flügeln!
Wenn Blitz aus Blitz sich reißt:
steht wie in Rossesbügeln
so ritterlich mein Geist.
Waldesrauschen, Wetterblicken
macht recht die Seele los,
da grüßt sie mit Entzücken,
was wahrhaft, ernst und groß.
Es schiffen die Gedanken
fern wie auf weitem Meer,
wie auch die Wogen schwanken:
die Segel schwellen mehr.
Herr Gott, es wacht Dein Wille,
ob Tag und Lust verwehn,
mein Herz wird mir so stille
und wird nicht untergehn.
Wenn ich fühle, „mein Herz wird mir so stille“, dann habe ich meinen persönlichen Bootssteg gefunden fürs Hineinsegeln in den FRIEDEN Gottes. Mögen auch die Wogen dann schwanken, die Segel schwellen: Wo kann ich in meinem Alltag solche Bootsstege finden? Sie sind leicht zu übersehen und doch ist es so wertvoll, wenn wir sie entdecken.
6 | al-Muminder VERLÄSSLICHE, der Wahrer der Sicherheit |
Glauben im tiefsten Sinn heißt nicht, etwas für wahr halten, glauben heißt, sich auf Gott als den VERLÄSSLICHEN zu verlassen. Im biblischen Hebräisch bezeichnet ein und dasselbe Wort Gottes felsenfeste Verlässlichkeit wie auch unser gläubiges Vertrauen auf Gott. Dieses Wort „Emunah“ (אֶמרּרׇה) kommt ebenso wie das Wort Al-Mu’min, der VERLÄSSLICHE, von einer Wurzel mit der Grundbedeutung „fest, stabil, zuverlässig“. Das Wort „Amen“ stammt auch vom selben Wortstamm ab und ist gleichsam das Siegel, das unser Glaube dieser Gegenseitigkeit von göttlicher Verlässlichkeit und menschlichem Sich-Verlassen aufdrückt.
So ist es auch kein Zufall, dass „Amen“ für alle drei Traditionen, die sich auf Abraham als den Vater ihres Glaubens zurückführen, ein ganz zentrales Wort wurde. Wenn die drei Amen-Traditionen, die jüdische, die christliche und die islamische, „Amen“ sagen, dann bekennen sie ihren Glauben an Gott, den VERLÄSSLICHEN, ihren gemeinsamen Glauben. So endet der 41. Psalm mit einem emphatischen Amen:
Gelobt sei der HERR, der Gott Israels,
von Ewigkeit zu Ewigkeit! Amen! Ja, Amen!
Ein christliches Kirchenlied verbindet „Amen“ ganz richtig mit der Treue Gottes, es beginnt mit den Worten:
Amen! Amen! lauter Amen
hat des treuen Gottes Mund.
Ewig führet er den Namen,
dass er aller Wahrheit Grund.
Und bei Muhammad al-Bukhari, einem Ausleger des Korans aus dem 9. Jahrhundert, lesen wir: „Wenn der Imam Amin sagt, so sagt Amin, denn wenn sein Amin mit dem Amin der Engel zusammentrifft, so werden ihm die vergangenen Sünden vergeben.“
Habe ich eigentlich Bekannte aus einer der anderen Amen-Traditionen? Könnte ich heute vielleicht Gelegenheit finden, mit einem von ihnen darüber zu sprechen, wie innig uns das Wort „Amen“ in unserem Glauben verbindet? Wenn ich nur Menschen meiner eigenen Tradition kenne, wie kann ich jemanden aus einer anderen Tradition kennenlernen? Das verlangt doch die Weltlage heute.
7 | al-Muḥayminder BESCHÜTZER und Behüter |
Wovor behütet mich denn eigentlich Gott, der BESCHÜTZER? Jedenfalls nicht vor Schicksalsschlägen. Von denen werden wir alle getroffen, ob wir uns unter Gottes Schutz stellen oder ob uns dieser Gedanke an göttlichen Schutz gar nicht kommt. Und doch bezeugen alle, die sich in der Hitze schwierigster Lebenslagen unter Gottes Schatten flüchten, dass dies den Kopf kühlt und das Atmen erleichtert. Worin besteht aber der Unterschied?
Ob wir uns von Gott beschützt wissen oder nicht, die äußeren Umstände bleiben die gleichen, aber die innere Haltung des Vertrauens bewährt sich. Und zwar nicht etwa deshalb, weil wir uns selber etwas vormachen und uns etwas einreden. Nein. Das Vertrauen auf Gottes Schutz bewährt sich, weil es uns vor Verzweiflung bewahrt.
Denn Verzweiflung macht uns blind für die Möglichkeiten, die uns trotz allem immer noch offenstehen, Vertrauen dagegen öffnet uns die Augen und lässt uns ungeahnte Auswege entdecken. Dadurch erweist sich Gott wirkkräftig als BESCHÜTZER. Gott wirkt nicht „von außen“ auf uns ein, sondern aus der innersten Tiefe des Geheimnisses, in dem unser Leben wurzelt.
Wer in meiner Umgebung hat es zurzeit besonders schwer und braucht Schutz? Es geht nicht darum, über den BESCHÜTZER zu reden, sondern schweigend gemeinsam in den schützenden Schatten des göttlichen Geheimnisses zu treten.
8 | al-cAzīzder ALLMÄCHTIGE, der Ehrwürdige |
Das ist wieder ein Gottesname, der leicht irreführen könnte. Schon beim Wort „Macht“, das hier anklingt, schwingen zu viele Ober- und Untertöne mit von Machtmissbrauch, Unterdrückung, Ausbeutung und dergleichen. Und dann gar noch Allmacht, uneingeschränkter Machtgebrauch? Der menschliche Urglaube ahnt zwar eine Machtfülle, auf die wir hinweisen wollen, wenn wir Gott den ALLMÄCHTIGEN nennen, aber mit menschlicher Herrschermacht hat sie nichts gemein.
Bei Menschen finden wir immer wieder die Liebe zur Macht. Bei Gott aber geht es um die Macht der Liebe. Nur diese verdient es, allmächtig genannt zu werden.