Ein Mann geht quer. Jörg Dulsky

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Ein Mann geht quer - Jörg Dulsky

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und wartete auf die Nacht.

      Nachmittags schon im Zelt liegen, weil man Schutz vor Kälte und Regen sucht, und dabei beobachten, ob sich schon Tropfen auf der Zeltplane bilden und wann sich der erste Tropfen zu lösen beginnt, das ist nicht gerade die Zeltromantik schlechthin. Das einzige Buch, das ich mithatte, war ein philosophisches und eignete sich nicht zum Zeitvertreib. Beinahe jede Seite musste ich mehrfach lesen, spätestens nach zehn Seiten war mir das zu anstrengend und ich ließ es bleiben. Ich spielte mit meinen Gedanken und sann über meine Zukunft nach. Was tue ich in einem Jahr, welcher Job würde mir gefallen, wie zahle ich meine Schulden ab …?

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      Biwakplatz auf der Terenbachalm: Die Nacht der Wahrheit naht.

      Interessanterweise war die Vergangenheit kein großes Thema in meinem Kopf. Bei meinen letzten Weitwanderungen am Pacific Crest Trail in Kalifornien oder im Sagarmatha-Nationalpark in Nepal war die Vergangenheitsbewältigung recht intensiv gewesen, in den USA war es eine kurz vor der Reise zu Ende gegangene Beziehung, deren emotionale Achterbahnfahrten ständig aus den Tiefen meines Hirnes hochkamen. Verdrängen funktioniert eben nicht.

      Anscheinend hatte ich innerlich mit meiner Firma schon gut abgeschlossen und war im Reinen mit dem ganzen Wahnsinn der letzten vierzehn Jahre. Viel Arbeit, wenig Brot war das Motto gewesen, was ja nicht unbedingt schlecht sein muss – so lange noch ein Sinn in der Sache zu erkennen ist. Aber genau der war mir immer mehr abhandengekommen; immer schneller wurde die Technologie gewechselt, immer öfter die Hardware entsorgt und immer größer wurde der Druck von Seiten der Big Player. Und ich versuchte zwanghaft, Mitarbeiter und Kunden bei Laune zu halten, selbst als mich selbst schon Anwälte bzw. Gerichte beschäftigten. Mein Partner, mit dem ich die Firma gegründet hatte, hatte sich sanft, aber stetig aus dem Staub gemacht und ich hatte nicht loslassen können und hatte es mir noch ein paar Jahre lang schwer gemacht. Statt Pausen einzulegen, innezuhalten, die Situation zu beobachten und nachzudenken, ob und wie das alles noch Sinn machen könnte, wollte ich die Botschaft nicht hören.

       „Es hat keinen Sinn, das Tempo zu erhöhen, wenn man in die falsche Richtung unterwegs ist.“

      Welch weiser Satz. Wie vielen Menschen mag es ähnlich gehen, wie es mir damals ergangen ist? Das System suggeriert „hudeln“ und wir jagen vermeintlichen Bedürfnissen und scheinbar unaufschiebbaren To-do-Listen hinterher und vergessen aufs Wesentliche. Denken beim Einkaufen ans Kochen, beim Kochen ans Essen, beim Essen ans Abwaschen und vergessen darüber das Jetzt. Wie hat nochmal das Essen geschmeckt?

      Natürlich ist es einfacher, einer Routine zu folgen, als sich stets neu erfinden zu müssen. Und es kann sehr anstrengend sein, nichts zu tun, sprich Zeit im Übermaß zu haben. Das konnte ich nun am eigenen Leib spüren. Es wurde ein langer Nachmittag und eine noch längere Nacht.

       UND ES TROPFTE

      In der Nacht kreiste ein Gewitter um mich und ich lauschte den Naturgewalten. Ich zählte den Abstand zwischen Blitz und Donner und wusste somit, ob das Gewitter sich näherte oder entfernte. Angst verspürte ich keine, nur Respekt. Sollte mich der Blitz erschlagen, dann wäre das wirklich Schicksal und hundertprozentig nicht zu verhindern gewesen. Meine Entscheidung, die Tagesetappe frühzeitig abzubrechen, sollte sich auch im Nachhinein als goldrichtig erweisen, denn das Gewitter wütete an meinem ursprünglichen Ziel, der Weinebene, diesem gar nicht mal so „ebenen“ Übergang zwischen der Steiermark und Kärnten, am intensivsten.

      Eine bittere Erkenntnis dieser Gewitternacht war, dass mein geliebtes Zelt, das mir schon so oft Schutz und ein Gefühl von Zuhausesein geboten hatte, bei Regen noch immer tropfte. Meinen Reparaturversuch konnte ich als gescheitert abhaken. Irgendetwas hatte ich beim Lagern des Zeltes offensichtlich falsch gemacht. Die Imprägnierung löste sich und somit wurden die Nähte undicht. Bevor ich es für diese Reise einpackte, hatte ich es zwar probehalber einmal aufgestellt, aber natürlich nicht bei Regenwetter, denn es entspricht nicht meinem Naturell, vom „worst case“ auszugehen. Funktioniert ja eh meistens, diese Einstellung, aber leider nicht immer.

      Auf alle Fälle würde ich mir ein neues Zelt besorgen, denn die Vorstellung, noch öfter nass zu werden, war nicht besonders angenehm. Allerdings fiel mir der Gedanke schwer, mich von meinem alten zu trennen. Es war mir ans Herz gewachsen, spätestens seit jener sturmumtosten Nacht am Mount Whitney in der kalifornischen High Sierra, in der ich jeden Moment glaubte, mitsamt dem Zelt davonzufliegen. Eine Nacht, die ich nie vergessen werde. Das Zelt hatte mir damals womöglich das Leben gerettet. Und nun sollte ich es einfach in den Müll kübeln?

      Da ich irgendwo im Nirgendwo war, hatte ich noch ein paar Tage Bedenkzeit, dieses Problem zu lösen. Für den nächsten Tag stand jetzt erst einmal eine lange, anstrengende Etappe an, mit dem bisher höchstgelegenen Zielpunkt.

      Fast den ganzen Tag wanderte ich der Landesgrenze Steiermark–Kärnten entlang, begleitet von größeren Wassermengen, die sich in kleinen Bächen und Tümpeln ihren Weg suchten. Dann verließ ich die Steiermark endgültig und setzte auf dem Großen Speikkogel nach Kärnten über – der Große übrigens schon der dritte und mit 2140 Metern auch der höchste Speikkogel auf meiner noch jungen Reise. Ich quälte mich und meinen Rucksackfreund die sogenannte Hühnerstütze hinauf, eine schauerlich steile „Direttissima“, immer in Sorge ob des Wetters. Das Gewitter von gestern hatte ich noch gut im Gedächtnis.

      Beim Aufstieg hielt das Wetter und ich konnte mühe-, aber nicht schneelos den Gipfel erreichen und durchschnaufen. An diesem Tag kam ich noch gut voran, absolvierte viele Kilometer und war guter Dinge.

      Bei einem „Ofen“ fand ich einen äußerst romantischen Zeltplatz. Diese Felsformationen aus mehr oder weniger dicken, wie von Riesenhand übereinandergestapelten Felsplatten sah ich noch öfters auf meiner Reise. Sie wirken einigermaßen bizarr, da sie mitunter auch mitten aus einer Almgegend herausragen, und inspirieren die Fantasie. Dieser, mein heutiger Ofen aber befand sich im Wald, und wieder gab es eine Fichte, die mir Schutz vor allzu heftigem Regen bieten sollte.

      Mit dem letzten Trinkwasser, das ich mit mir trug, kochte ich mir eine Packerl-Grießnockerlsuppe. Nun hatte ich zwar kein Wasser mehr, dafür aber noch reichlich Hunger, also beschloss ich, zu der Hütte zurückzugehen, die ich am Weg hierher gesehen hatte. Ich schnappte meine zwei Wasserflaschen, die Geldbörse und ging rund einen Kilometer retour. Die Hütte war tatsächlich geöffnet. So kam ich an diesem Tag noch unerwartet zu Kärntner Käsebrot und trank bei einer netten Unterhaltung zwei Bier. Hans-Peter, ein Einheimischer (und so wie ich Gast in der Hütte), der vom Autoreparieren und Handwerkeln lebt, schaute nur ungläubig, als ich ihm von meinem Vorhaben, zu Fuß nach Nizza zu gehen, erzählte.

      „Wieso hast’n so viel Zeit, arbeitest leicht nix?“

      Diese Frage bekam ich noch öfter zu hören und im Nachhinein glaube ich, dass viele Menschen meine Worte zwar akustisch verstanden, aber ihr Kopf die Botschaft nicht glaubte. Für so einen Irrsinn haben vorwiegend Landmenschen keine Muße. So auch Hans-Peter.

      Wir hatten ein gutes Gespräch und nach einem Schnapserl machte auch er sich auf den Heimweg und brachte mich dabei zu meinem Zelt zurück.

      Auf dem Weg dorthin hörte ich von ihm den schönen Spruch: „Kaputt wird’s immer dort, wo Tag und Nacht zusammenkommen!“ Gemeint war der Zaunpfahl: unter der Erde und ober der Erde war er beständig, am Scheidepunkt jedoch morsch und kaputt. Der lässt sich auf jeden Fall weiterdenken, der Spruch.

      In der Zwischenzeit hatte der Regen wieder eingesetzt und mir stand meine ungemütlichste Nacht bevor. Doch davon wusste ich noch nichts, als ich mich von Hans-Peter verabschiedete und gut gelaunt mit Eva telefonierte.

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