Faszination Jesus. Roland Werner
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Nicht nur in letzter Zeit gab es diesen Versuch, Jesus in ein Schema zu pressen. Das Bestreben, ihn irgendwie zu zähmen, der eigenen Anschauung anzupassen, finden wir überall in der Geschichte. Ich will noch einige weitere Jesusbilder nennen:
Der liberale Jesus
Das 19. Jahrhundert war das Jahrhundert des ersten großen technischen Schubs. Das früher Unmögliche schien auf einmal möglich zu werden. Elektrizität, Eisenbahnen, weltweite Entdeckungen und Eroberungen ließen in der westlichen Welt das Gefühl entstehen, alles sei machbar. Die Wissenschaft eroberte Stück für Stück die Wirklichkeit. Da war kaum noch Platz für Gott. Und auf keinen Fall Platz für das Übernatürliche. Die bürgerliche Gesellschaft legte großen Wert auf treue, selbstvergessene Pflichterfüllung. Moral und gute Sitten wurden hoch angesehen.
Und so entdeckten die Theologen dann auch zeitgemäß einen Jesus, der dem Zeitgeschmack entgegenkam. Alles Übernatürliche in den Evangelien, also die Wunder, die Vorhersagen und Erfüllungen, die Heilungen und die Befreiung von dämonischen Mächten, sollten nun herausgestrichen werden. All diese Berichte seien zeitbedingt und spiegelten nur das primitive Weltbild der Antike wider. In unserer aufgeklärten Zeit, so sagten die Verfasser vieler liberaler Jesusbücher, erkennen wir, dass das alles nur nachträglich hinzugefügtes Beiwerk sei. Der wirkliche Jesus sei stattdessen Jesus, der Sittenlehrer. Der uns zeigt, wie man verantwortlich und pflichtbewusst sein Leben führt. Der Lehrer, der seinen gutwilligen, aber noch bildungsbedürftigen Schülern zeigt, was sich schickt und was nicht. Der uns die ewig gültige Regel der Nächstenliebe hinterlassen hat.
Das Jesusbild wurde also von allen Hinweisen auf Übernatürliches befreit. Übrig blieb ein Jesus, der im Bild eines preußischen Erziehers geschaffen war. Der mehr an einen deutschen Gymnasiallehrer erinnerte als an einen jüdischen Rabbi. Eine Art antiker Immanuel Kant. Ein zweiter Sokrates. Ein sanfter, gütig, bisweilen aber auch etwas streng dreinblickender Lehrer.
Das war natürlich ein attraktives und den Status quo wenig gefährdendes Jesusbild. Und doch entpuppte sich der liberale Jesus schon zu seiner Zeit als mangelhaft. Jeder Autor produzierte nämlich seine eigene Version des Lebens Jesu. Spätestens als Albert Schweitzer dann sein Buch „Die Geschichte der Leben-Jesu-Forschung“10 schrieb, hätte allen klar werden müssen, dass dieser Versuch in einer Sackgasse geendet hatte. Es war einfach unmöglich, die sogenannten übernatürlichen Elemente aus dem Leben Jesu herauszuschneiden und dennoch ein einigermaßen vernünftiges Restbild von Jesus zu bewahren. Die verschiedenen Teile seiner Person und seines Wirkens ließen sich einfach nicht voneinander trennen. Das Ergebnis wäre gewesen, dass man gar nichts mehr über Jesus aussagen könnte. Und das wäre dann doch zu wenig gewesen! Diese Tatsache erkannte Schweitzer.
Und doch wurde immer wieder der Versuch unternommen, einen „naturwissenschaftlich haltbaren“ Jesus zu finden. Der Marburger Neutestamentler Rudolf Bultmann war einer der späteren Theologen, die das immer noch versuchten. Das Problem war allerdings, dass der Wissensstand der Naturwissenschaft, den er und andere Theologen als Maßstab an den Jesus des Neuen Testamentes legten, schon längst überholt war, als sie ihre Werke über das Neue Testament schrieben. Die materialistische Weltsicht, das mechanistische Weltbild der Physik des 19. Jahrhunderts, das keinen Raum für Wunder oder auch Unregelmäßigkeiten in Naturvorgängen offenließ, leitete diese Theologen noch in der Mitte des 20. Jahrhunderts. Doch da war längst durch die moderne Quantenphysik die Theorie von der absoluten Einförmigkeit und Vorhersagbarkeit der Naturvorgänge widerlegt. Das liberale Jesusbild, das sich einer alten Physik anpassen wollte, war schon hoffnungslos veraltet, als es durch diese Theologen popularisiert wurde. Die zwingende Notwendigkeit, Wunder aus naturwissenschaftlichen Gründen von vornherein als unmöglich auszuschließen, war also gar nicht mehr vorhanden. Und doch geistert das liberale Jesusbild, durch Bücher und Religionsunterricht vermittelt, immer noch in den Köpfen vieler herum. Und verstellt ihnen den Blick auf den wirklichen Jesus.
Der germanische Held
Dieser Versuch, Jesus für eine bestimmte Weltanschauung zu gewinnen, gehört ebenfalls in das 20. Jahrhundert. Der Sieg der biologischen Weltanschauung, die Lehre von dem Überlebensrecht des Stärkeren, hatte mit dazu beigetragen, dass Menschen unter dem Gesichtspunkt der Rasse und Volkszugehörigkeit angesehen wurden. Dann war es nur noch ein Schritt, bis ein Volk als grundsätzlich überlegen, als Herrenmenschen, und ein anderes als unterlegene Rasse, als Untermenschen bezeichnet werden konnte. Für die sogenannte „Deutsche Glaubensbewegung“, eine heidnisch-christliche Mischreligion, die ihr Gedankengut unter starker Anlehnung an nationalsozialistische Vorstellungen und den Rückgriff auf heidnisch-germanische Sagen gebildet hatte, und später auch für Teile der Bewegung der sogenannten „Deutschen Christen“ im nationalsozialistischen Staat war es unerträglich, an einen jüdischen, dunkelhäutigen und schwarzhaarigen Jesus zu glauben. Jesus musste neu modelliert werden, umgestaltet in das Bild eines blonden, hünenhaften germanischen Recken, der als ethisch hochstehender Muskelmann Vorbild für den neuen Deutschen sein konnte. Das Alte Testament wurde als jüdisch und undeutsch abgetan. Jesus wurde eingedeutscht. Er konnte nun Vorbild für den freien germanischen Mann sein, der auszieht, um neuen Lebensraum für sein Volk zu erobern.
Welche gedankliche Akrobatik zu einer solchen Umformung der biblischen Dokumente gehört, ist für uns heute kaum noch nachvollziehbar. Aber die Sache selbst geschieht immer neu: Jesus wird dem jeweiligen Geschmack angepasst.
Nun ist auch in dieser Jesusdeutung eine Wahrheit enthalten. Denn Jesus und seine Botschaft sind für jede Kultur relevant. Und jede Kultur, wie jeder einzelne Mensch, wird Jesus von einer bestimmten Seite her ansehen. Und das Gefühl gewinnen, dass Jesus ganz zu ihm steht, ganz auf seine Seite tritt. Das wird vor allem in künstlerischen Jesusdarstellungen deutlich. In verschiedenen Kontinenten wird in der Kunst Jesus als einer gemalt und dargestellt, der ganz zu ihnen gehört. So gibt es den schwarzen Jesus, den indonesischen Jesus und den indianischen Jesus. Jesus wird von der jeweiligen Kultur ganz angenommen und integriert. Und das ist gut so, denn hier zeigt sich die universelle Bedeutung von Jesus. Er hat in sich die Kraft, Menschen jeder Kultur anzusprechen und für sich zu gewinnen. Dennoch gibt es eine feine Trennlinie: Keines dieser auf eine bestimmte Kultur zugeschnittenen Bilder von Jesus darf absolut gesetzt werden. Jedes ist nur eine Interpretation, das in die bestimmte Situation hineinspricht. Und jedes muss sich immer wieder an den historischen Dokumenten, wie sie uns im Neuen Testament vorliegen, überprüfen und korrigieren lassen. Denn Jesus ist eben letztlich doch nicht ein germanischer, afrikanischer oder asiatischer Jesus.
Der Geheimlehrer
Auch dies ist ein heute sehr beliebtes Jesusbild, besonders in der westlichen Welt. Das Strickmuster ist etwa wie folgt: Zuerst wird gesagt, Jesus habe zwei verschiedene Arten von Lehren von sich gegeben. Öffentlich habe er dem allgemeinen Volk Gleichnisse und einfache Glaubenslehren vermittelt. Daneben aber habe er seinen Jüngern eine Art Geheimlehre weitergegeben, in die sie wiederum nur auserwählte Einzelne einweihen durften. Diese geheime Lehre von Jesus befinde sich auf einer höheren Stufe als das, was die einfachen Gläubigen wissen. Die seien auch zu einfach und unverständig, um dies richtig zu verstehen. Deshalb wird gesagt, dass diese geheime Lehrunterweisung Jesu in einer Geheimtradition immer weiter vermittelt worden sei, wobei die offizielle christliche Kirche versucht habe, dieses Wissen zu bekämpfen und zu unterdrücken.
Diese auf den ersten Blick spannende und deshalb viele Menschen anziehende Hypothese hat ein großes Problem: Ihr fehlt die geschichtliche Grundlage. In den Evangelien haben wir, wie wir noch sehen werden, tatsächlich verlässliche Berichte über das, was Jesus getan und gelehrt hat. Die Theorie von der Geheimlehre Jesu ist erst mehrere Generationen später, nämlich im ausgehenden 2. Jahrhundert