Maigret und die Schleuse Nr. 1. Georges Simenon
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Читать онлайн книгу Maigret und die Schleuse Nr. 1 - Georges Simenon страница 3
Man hörte das Brummen eines Autos. Oben stiegen mehrere Männer aus und gingen auf die Treppe zu. Es waren Polizisten und ein Arzt. Ohne noch Genaueres zu wissen, scheuchten die Polizisten die Schaulustigen davon. Der Arzt stellte seine Tasche auf einem Betonsockel ab.
Ein Inspektor in Zivil, der eben mit den Leuten gesprochen hatte, wandte sich dem Alten zu, den man ihm gezeigt hatte. Aber es war zu spät, ihn zu vernehmen. Er hatte die Schnapsflasche halb geleert und blickte jeden misstrauisch an.
»Ist das Ihr Vater?«, fragte der Inspektor die junge Frau im Nachthemd.
Sie schien nicht zu verstehen. Es geschah ja auch zu viel auf einmal. Der Wirt des Bistros kam heran und sagte:
»Gassin war schon sternhagelvoll. Er muss auf dem Steg ausgerutscht sein.«
»Und der da?«
Der Arzt entkleidete den anderen.
»Das ist Émile Ducrau, der mit den Schleppern und Steinbrüchen. Er wohnt dort.«
Er deutete auf das hohe Haus mit den Fensterläden im ersten Stock, durch die immer noch ein dünner Lichtschein sickerte, und mit den wie in einen rosigen Schimmer getauchten Fenstern im zweiten.
»Im zweiten Stock?«
Die Leute zögerten mit der Antwort.
»Im ersten«, sagte schließlich einer.
Und ein anderer fügte geheimnisvoll hinzu:
»Aber auch im zweiten! Jedenfalls hat er da jemanden.«
»So was wie einen zweiten Haushalt!«
Das Fenster dort oben schloss sich wieder, und die Jalousie wurde hinuntergelassen.
»Ist die Familie schon benachrichtigt?«
»Nein. Man wollte erst sicher sein.«
»Zieh dir Strümpfe an«, sagte ein Schiffer zu seiner Frau, »und bring mir meine Mütze.«
Und so huschte von Zeit zu Zeit eine Gestalt von einem Kahn auf den anderen. Durch die Luken waren Petroleumlampen, zerwühlte Betten und Fotos an den Holzwänden zu erkennen.
Leise sagte der Arzt zum Inspektor:
»Sie sollten den Kommissar benachrichtigen. Bevor man den Mann ins Wasser geworfen hat, ist er mit einem Messer verletzt worden.«
»Ist er tot?«
Als hätte der Ertrunkene nur darauf gewartet, schlug er die Augen auf und spuckte unter Stöhnen Wasser aus. Er sah alles verkehrt herum, denn er lag auf dem Boden, und sein Horizont war der mit Sternen übersäte Himmel. Für ihn waren die Menschen ins Unendliche hineinragende Giganten und ihre Beine gewaltige Säulen. Er sagte nichts. Er dachte vielleicht nicht einmal etwas. Teilnahmslos blickte er ins Leere, und erst allmählich wurden seine Pupillen wieder beweglich.
Offenbar war sein Stöhnen gehört worden, denn plötzlich kamen alle gleichzeitig angelaufen, und die Polizisten gaben der Szene nun einen normalen, offiziellen Charakter: Sie bildeten Spalier, drängten die Menge zurück und ließen nur diejenigen hindurch, deren Anwesenheit notwendig war.
Der Liegende sah, wie sich der Raum um ihn herum leerte. Uniformen und Schirmmützen mit Silbertressen tauchten vor ihm auf. Er spuckte weiter graues Wasser, es troff ihm vom Kinn auf die Brust, während man unaufhörlich seine Arme bewegte. Auch die Bewegungen seiner Arme verfolgte er interessiert, und er runzelte die Stirn, als jemand in der letzten Reihe flüsterte:
»Ist er tot?«
Der alte Gassin erhob sich, ohne seine Flasche loszulassen, machte drei unsichere Schritte, stellte sich zwischen die Beine des anderen und sprach ihn an, wobei er so lallte, dass nicht eine Silbe zu verstehen war.
Aber Ducrau sah ihn. Er ließ ihn nicht aus den Augen. Er dachte nach. Bestimmt kramte er in seinem Gedächtnis.
»Gehen Sie weiter!«, fuhr der Arzt Gassin an und schob ihn so heftig beiseite, dass der Betrunkene hinfiel und seine Flasche zerbrach. Stöhnend und fluchend blieb er liegen und bemühte sich, seine Tochter, die sich über ihn beugte, wegzuscheuchen.
Wieder hielt ein Auto auf dem Quai, und eine neue Gruppe versammelte sich um den Polizeikommissar.
»Kann man ihn vernehmen?«
»Sie können es jedenfalls versuchen.«
»Glauben Sie, dass er davonkommen wird?«
Émile Ducrau antwortete selbst mit einem Lächeln. Es war ein seltsames, noch vages Lächeln, fast wie eine Grimasse, aber es bezog sich zweifellos auf die Frage.
Der Kommissar grüßte ihn, etwas verwirrt, indem er seinen Hut zog.
»Ich freue mich zu sehen, dass es Ihnen wieder besser geht.«
Es war unpraktisch, so von oben herab mit einem Mann zu sprechen, dessen Gesicht dem Himmel zugekehrt war und an dem sich die Helfer unablässig zu schaffen machten.
»Sind Sie überfallen worden? War es weit von hier? Wissen Sie, wo genau man auf sie eingestochen und Sie dann ins Wasser geworfen hat?«
Der Mund spuckte immer noch stoßweise Wasser aus. Émile Ducrau beeilte sich nicht mit der Antwort, er versuchte nicht einmal zu sprechen. Er drehte den Kopf ein wenig, weil die junge Frau im weißen Nachthemd in sein Blickfeld geriet, und folgte ihr mit den Augen bis zum Steg.
Sie ging, begleitet von einer Nachbarin, um für ihren Vater, der sich nicht ins Bett bringen lassen wollte, Kaffee zu kochen.
»Erinnern Sie sich, was geschehen ist?«
Und da er immer noch nicht antwortete, nahm der Kommissar den Arzt beiseite:
»Glauben Sie, dass er mich versteht?«
»Davon kann man ausgehen.«
»Und doch …«
Sie wandten Ducrau den Rücken zu. Zu ihrer Verblüffung hörten sie plötzlich seine Stimme.
»Ihr tut mir weh …«
Alle Blicke richteten sich auf ihn. Es fiel ihm schwer zu sprechen. Mühsam einen Arm bewegend, stammelte er:
»Will nach Hause …«
Was die Hand zu zeigen versuchte, war das sechsstöckige Haus hinter ihm. Der Kommissar war verstimmt und unschlüssig.
»Entschuldigen Sie, wenn ich darauf bestehe, aber es ist meine Pflicht. Haben Sie Ihre Angreifer gesehen? Haben Sie sie erkannt? Vielleicht sind sie nicht weit gekommen …«
Ihre Blicke trafen sich. Émile Ducrau wich nicht aus. Und doch antwortete er nicht.
»Es wird Ermittlungen geben, und die Staatsanwaltschaft wird mich bestimmt fragen, ob …«
Ganz überraschend kam Leben in diesen schlaffen