Maigret und die Schleuse Nr. 1. Georges Simenon

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Maigret und die Schleuse Nr. 1 - Georges  Simenon Georges Simenon

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      »Nach Hause!«, wiederholte er wütend.

      Es war zu spüren, dass er, wenn man ihn weiter behinderte, toben und vielleicht sogar genügend Kraft gewinnen würde, um aufzustehen und sich auf die Menge zu stürzen.

      »Vorsicht«, rief der Arzt, »Ihre Wunde kann anfangen zu bluten.«

      Aber das scherte den stiernackigen Mann wenig. Er hatte es plötzlich satt, inmitten von Schaulustigen auf dem Boden zu liegen.

      »Also gut, bringt ihn nach Hause«, seufzte der Kommissar ergeben.

      Man hatte von der Schleuse Nr. 1 die Tragbahre geholt. Aber von einer Bahre wollte Ducrau nichts wissen. Er schimpfte. Man musste ihn an Armen, Beinen und Schultern festhalten. Als er davongetragen wurde, sah er die Umstehenden zornig an, und sie traten zur Seite, denn sie hatten Angst vor ihm.

      Der kleine Zug hatte gerade die Straße überquert, als der Kommissar ihn anhielt.

      »Einen Augenblick. Ich muss erst seine Frau benachrichtigen.«

      Er klingelte, während die Träger unter der grünen Gaslampe stehen blieben, wo sich die Haltestelle der Busse und Straßenbahnen befand.

      Währenddessen hatten ein paar Schiffer große Mühe, den alten Gassin, der sturzbetrunken war und sich zudem an einer Scherbe die Hand verletzt hatte, über den Steg hinauf zur Toison d’Or zu bringen.

      2

      Am übernächsten Tag stieg Kommissar Maigret an der Haltestelle gegenüber den beiden Bistros aus der Straßenbahn der Linie 13. Es war zehn Uhr morgens, blendend hell und sehr laut. Maigret blieb eine Weile stirnrunzelnd auf dem Gehweg stehen, während sich weiße Zementlaster zwischen ihn und den Kanal schoben.

      Er hatte die Vertreter der Staatsanwaltschaft nicht begleitet, und er kannte den Ort des Geschehens wie überhaupt den ganzen Fall nur theoretisch. Auf dem kleinen Plan, den man für ihn gezeichnet hatte, sah alles ganz einfach aus: rechts der Kanal mit der Schleuse und Gassins Schiff am Verladequai, links die beiden Bistros, das hohe Haus und ganz hinten das kleine Tanzlokal.

      Vielleicht war das alles zutreffend, aber es fehlte das ganze lebendige Drumherum. So befanden sich zum Beispiel allein fünfzig Schiffe im Hafenbecken vor der Schleuse, die einen lagen am Quai, die anderen waren aneinander festgemacht, und wieder andere bewegten sich langsam in der Sonne. Und auf der Straße herrschten Gewimmel und ein Mordslärm, verursacht vor allem von den schweren Lastwagen.

      Doch die Seele der Umgebung lag woanders, oder jedenfalls ihr Herz, dessen Schläge der Luft den Rhythmus gaben: Am Ufer ragte ein merkwürdiger Apparat in die Höhe, ein eiserner Turm, der bei Nacht vermutlich nichts als ein grauer Fleck war, bei Tag aber aus jeder Nut, jedem Holm und jedem Riemen einen Höllenlärm von sich gab. Er zermalmte Steine. Krachend fielen sie auf große Siebe, wurden weitertransportiert und schließlich auf staubdampfende Haufen gekippt.

      Hoch oben an der Maschine prangte ein blaues Emailschild mit der Aufschrift Entreprises Émile Ducrau.

      An über den Schiffen gespannten Leinen hing Wäsche zum Trocknen, und auf der Toison d’Or kippte eine blonde junge Frau Wasser über das Deck.

      Wieder fuhr eine Straßenbahn der Linie 13 vorbei, dann noch eine zweite, bis sich Maigret schweißgebadet und mit von der ersten Aprilsonne glühender Haut etwas unentschlossen dem hohen Haus zuwandte. Er blickte durch die Scheiben der Loge, konnte aber keine Concierge entdecken. Auf der Treppe lag ein abgewetzter dunkelroter Läufer. Die Stufen waren poliert, die Wände marmoriert gestrichen. Der Treppenabsatz mit seinen beiden dunklen Türen und den blank geputzten Messingknäufen roch nach Staub, nach Biederkeit und Mittelmaß. Aus dem Innenhof fiel schräg ein Sonnenstrahl durch irgendein Oberlicht und tauchte das Treppenhaus in ein goldenes Licht.

      Maigret klingelte. Nach dem zweiten Mal hörte er drinnen Geräusche, aber es vergingen fünf Minuten, bis die Tür geöffnet wurde.

      »Ich möchte zu Monsieur Ducrau.«

      »Da sind Sie richtig. Kommen Sie rein.«

      Die Hausangestellte hatte ein rotes Gesicht und machte einen aufgeregten Eindruck, und ohne eigentlich zu wissen, warum, musste Maigret bei ihrem Anblick lächeln. Sie war eine rundliche junge Frau, ansprechend, jedenfalls von hinten betrachtet, denn das Gesicht mit den groben, unregelmäßigen Zügen enttäuschte dann.

      »Wen darf ich melden?«

      »Die Kriminalpolizei.«

      Sie machte zwei Schritte auf die Tür zu und musste sich bücken, um ihren Strumpf hochzuziehen. Dann ging sie zwei Schritte weiter, glaubte sich vom Türflügel verdeckt, befestigte schnell den Strumpfhalter und zupfte den Unterrock zurecht. Maigret schmunzelte noch mehr. Im Nebenzimmer wurde geflüstert, dann erschien die Hausangestellte wieder.

      »Bitte, treten Sie ein.«

      Maigrets Lächeln hatte nicht nur mit der Sonne zu tun. Es kam von innen und breitete sich über sein Gesicht. Schon beim Betreten des Vorzimmers, fast schon auf der Fußmatte, hatte er geahnt, was hier vor sich gegangen war, und nun war er ganz sicher.

      »Monsieur Ducrau?«, fragte er.

      Seine Augen lachten. Sein Mund verzog sich unwillkürlich zu einem Feixen, und von diesem Moment an schien die Wahrheit zwischen den beiden Männern eingestanden. Ducrau sah das Dienstmädchen an, dann den Besucher und schließlich seinen roten Samtsessel. Daraufhin strich er sich, obwohl es gar nicht nötig war, die nach hinten gekämmten Haare glatt und lächelte ebenfalls, geschmeichelt, ein wenig verlegen, aber doch zufrieden.

      Drei Fenster funkelten in der Sonne. Durch eines, das weit offen stand, drangen die Geräusche der Straße und der Lärm des Steinbrechers so laut herein, dass Maigret, als er zu sprechen begann, kaum sein eigenes Wort verstand.

      Émile Ducrau hatte sich mit einem Seufzer des Behagens wieder in seinen Sessel fallen lassen. Er wirkte noch etwas mitgenommen. Von dem Geschehen mit dem Dienstmädchen standen ihm noch einige Schweißperlen auf der Stirn, und sein Atem ging schneller. Auch die Vertreter der Staatsanwaltschaft hatten den Mann tags zuvor im Sessel sitzend angetroffen – zu ihrer Verblüffung, denn sie hatten erwartet, ihn sterbenselend in seinem Bett vorzufinden.

      Er trug Pantoffeln und unter seiner alten Jacke ein Nachthemd mit rotgesticktem Kragen. Die gleiche nachlässige Biederkeit fand sich in allen Einzelheiten des Wohnzimmers wieder, in den beliebigen, dreißig oder vierzig Jahre alten Möbeln, den schwarz und gold gerahmten Fotografien von Schleppern und dem Rollschreibtisch in der Ecke.

      »Sie also wurden mit dem Fall beauftragt?«

      Sein Lächeln verblasste. Ducrau wurde wieder zu dem ernsten Mann mit streng forschendem Blick und einem aggressiven Unterton in der Stimme.

      »Ich nehme an, Sie haben sich schon Ihr eigenes Bild von der Geschichte gemacht? Nein? Nun, umso besser. Allerdings wundert es mich, bei einem Polizisten!«

      Er verhielt sich nicht absichtlich unangenehm, es war seine Natur. Manchmal verzog er das Gesicht. Vermutlich schmerzte ihn seine Verletzung im Rücken.

      »Trinken Sie etwas! Mathilde! Mathilde! Mathilde, Herrgott noch mal!«

      Und als das Dienstmädchen, mit seifigen Händen, endlich erschien:

      »Bringen

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