Insel der verlorenen Erinnerung. Yoko Ogawa
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Yoko Ogawa
Insel
der verlorenen
Erinnerung
Roman
Aus dem Japanischen
von Sabine Mangold
Die Originalausgabe erschien 1994 unter dem Titel
»Hisoyaka na Kesshô« bei Kodansha in Tokio.
© Yoko Ogawa 1994
© Verlagsbuchhandlung Liebeskind 2020
Alle Rechte vorbehalten
Yoko Ogawa wird durch das Japan Foreign-Rights Centre vertreten
Umschlagmotiv: Taxi / Getty Images
Umschlaggestaltung: Tyler Comrie, New York
eISBN 978-3-95438-123-4
Inhalt
1
Manchmal frage ich mich, was auf der Insel zuerst verschwand.
»Lange bevor du auf die Welt kamst, gab es so vieles hier: durchsichtige und angenehm duftende Dinge, flirrende, schimmernde, wundersame Dinge, von denen du keine Vorstellung hast.«
Als ich ein Kind war, erzählte meine Mutter mir diese Geschichten.
»Es ist wirklich ein Jammer, dass die Inselbewohner nicht imstande sind, all das im Gedächtnis zu bewahren. Aber so ist es hier nun mal, nach und nach geht alles verloren. Bald schon wirst du zum ersten Mal erleben, wie etwas für immer verschwindet.«
»Ist das nicht furchtbar?«, fragte ich ängstlich.
»Nein. Hab keine Angst! Es tut nicht weh und macht auch nicht traurig. Du wirst es kaum wahrnehmen. Eines Morgens wachst du auf, und dann ist es auch schon geschehen. Während du mit geschlossenen Augen lauschst, um die Morgenstimmung einzufangen, wirst du merken, etwas ist anders. Dann weißt du, dass etwas fehlt, dass etwas nicht mehr existiert.«
Meine Mutter redete nur darüber, wenn wir uns in ihrem Atelier aufhielten, das im Keller lag. Es war ein großer, staubiger Raum mit unebenem Boden. Die Nordseite lag in der Nähe des Flusses, man konnte das Rauschen des Wassers hören. Ich saß auf meinem kleinen Schemel, und sie erzählte mit leiser Stimme, während sie einen Stein glatt feilte oder ihren Meißel schliff. Meine Mutter war Bildhauerin.
»Wenn etwas verschwindet, herrscht auf der Insel ein ziemlicher Tumult. Alle Einwohner versammeln sich auf den Straßen und tauschen Erinnerungen aus über das, was verloren gegangen ist. Wehmütig trauert man den Dingen hinterher und spendet einander Trost. Wenn es sich um konkrete Gegenstände handelt, die abhandengekommen sind, lesen wir deren Überreste auf, um sie zu verbrennen, zu vergraben oder in den Fluss zu werfen. Nach ein paar Tagen hat sich die Aufregung schon wieder gelegt. Man geht zur Tagesordnung über, als wäre nichts geschehen. Hinterher weiß man nicht einmal mehr, was eigentlich verschwunden ist.«
Dann unterbrach sie ihre Arbeit und führte mich hinter die Treppe zu einer alten Kommode mit zierlichen Schubladen.
»Komm, such dir eine aus und schau hinein.«
Ich war jedes