Insel der verlorenen Erinnerung. Yoko Ogawa

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Insel der verlorenen Erinnerung - Yoko Ogawa

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zögerte, weil ich wusste, dass sich in den Kästchen wundersame Dinge befanden. Es war das geheime Versteck meiner Mutter. Dort bewahrte sie Gegenstände auf, die von der Insel verschwunden waren.

      Wenn ich dann endlich meine Wahl getroffen hatte und eine Schublade aufzog, legte sie lächelnd den Inhalt auf meine Handfläche, die ich ihr entgegenhielt.

      »Dieses Stück Stoff heißt ›Band‹. Es verschwand, als ich selbst noch ein Kind war. Man konnte damit seine Haare zusammenbinden oder es zur Zierde an Kleidungsstücke nähen.«

      »Das hier ist ein ›Glöckchen‹. Du kannst es hin- und herschwingen. Hör nur, wie schön sein Klang ist.«

      »Oh, heute hast du dir eine besondere Schublade ausgesucht. Das ist ein ›Smaragd‹. Es ist das Kostbarste in meiner Sammlung, ein Andenken an meine Großmutter. Einst war es der wertvollste Stein auf der ganzen Insel. Aber leider haben alle vergessen, wie schön er ist.«

      »Das hier ist zwar klein, war aber von großer Bedeutung. Wenn man jemandem etwas mitteilen wollte, schrieb man es auf ein Blatt Papier und klebte dann diese ›Briefmarke‹ auf den Umschlag. Damit konnte das Schriftstück überallhin geschickt werden. Aber das ist schon lange vorbei.«

      Band, Glocke, Smaragd, Briefmarke … Die Worte aus dem Mund meiner Mutter ließen mich wohlig erschaudern, wie es sonst nur Mädchennamen aus fernen Ländern oder exotische Pflanzenarten vermochten. Wenn ich ihren Geschichten lauschte, stellte ich mir vor, wie all die Dinge auf unserer Insel einst ihren Platz hatten.

      Das war gar nicht so einfach. Denn die Gegenstände blieben reglos auf meiner Handfläche liegen, ohne ein Lebenszeichen. Sie verharrten wie kleine Tiere, die Winterschlaf halten. Ich fühlte mich dann unsicher, so als müsste ich aus Knetmasse Wolken formen. Während ich vor den geheimnisvollen Schubladen stand, fühlte ich, dass ich meine volle Aufmerksamkeit auf jedes Wort richten musste, das meine Mutter aussprach.

      Meine Lieblingsgeschichte war die über das »Parfum«. Es handelte sich dabei um eine klare Flüssigkeit in einem Glasflakon. Als meine Mutter mir zum ersten Mal einen solchen Flakon überreichte, hielt ich den Inhalt für Zuckerwasser und hätte fast daraus getrunken.

      »Nein, das ist doch nicht zum Trinken!« Meine Mutter hielt mich lachend zurück.

      »Davon darfst du nur ein Tröpfchen hinters Ohr tun.«

      Sie tupfte behutsam eines auf die entsprechende Stelle.

      »Aber wozu soll das gut sein?«, fragte ich erstaunt.

      »Parfum ist zwar unsichtbar, aber trotzdem lässt es sich in solch einen Flakon sperren.«

      Ich musterte neugierig den Inhalt.

      »Wenn man Parfum aufträgt, dann duftet es. Damit kannst du jemanden verzaubern. Als ich jung war, haben alle Mädchen vor einem Rendezvous Parfum aufgetragen. Um einem Jungen, für den man schwärmte, zu gefallen, war die Wahl des Dufts genauso wichtig wie die passende Kleidung. Das hier ist das Parfum, das ich getragen habe, wenn ich mit deinem Vater verabredet war. Wir trafen uns meistens im Rosengarten, der am Fuße des Hügels im Süden der Stadt liegt, und ich hatte Mühe, einen Duft zu finden, der es mit den Blumen aufnehmen konnte. Wenn der Wind durch mein Haar strich, musterte ich ihn verstohlen von der Seite, weil ich wissen wollte, ob er mein Parfum wahrnahm.«

      Meine Mutter war immer sehr aufgeregt, wenn sie davon erzählte.

      »Damals kannte jeder solche duftenden Essenzen. Und alle fanden Gefallen daran. Aber jetzt sind sie fort. Nirgendwo wird mehr Parfum verkauft, und niemand verlangt mehr danach. Es verschwand im Herbst desselben Jahres, als dein Vater und ich heirateten. Alle versammelten sich daraufhin am Fluss, jeder brachte seinen Lieblingsduft mit. Die Flakons wurden geöffnet und der Inhalt ins Wasser geschüttet. Am Ende rochen einige mit wehmütigem Bedauern an ihren leeren Flakons, aber niemand konnte sich mehr an den Duft erinnern. Damit war Parfum bedeutungslos geworden. Es hatte sich im Wasser aufgelöst und spielte keine Rolle mehr. Noch einige Tage später raubte einem der Geruch am Fluss fast den Atem, und viele Fische starben. Aber das fiel niemandem mehr auf. Das Parfum war bereits aus den Herzen der Menschen verschwunden.«

      Als sie zum Ende kam, blickte meine Mutter traurig vor sich hin. Dann nahm sie mich auf ihren Schoß und ließ mich an ihrem Hals riechen.

      »Und?«, fragte sie.

      Ich wusste nicht recht, was ich antworten sollte. Ein gewisser Duft schwebte in der Luft, jedoch nicht so wie getoastetes Brot oder der Chlorgeruch im Schwimmbad. Sosehr ich mich auch anstrengte, mir fiel nichts dazu ein.

      Sie wartete, und als ich keine Antwort gab, stieß sie einen Seufzer aus.

      »Es ist nicht schlimm. Für dich sind das eben nur ein paar Tropfen Flüssigkeit, daran ist nichts zu ändern. Man kann sich unmöglich an alle Dinge erinnern, die von unserer Insel verschwunden sind.«

      Mit diesen Worten legte sie den Flakon wieder in die entsprechende Schublade.

      Als die Wanduhr neun schlug, musste ich hoch auf mein Zimmer. Meine Mutter nahm Hammer und Meißel und machte sich wieder an die Arbeit.

      Später, als sie mir einen Gutenachtkuss gab, wagte ich endlich die Frage zu stellen, die mir schon lange auf der Seele brannte.

      »Sag, wieso erinnerst du dich an all die verschwundenen Dinge? Warum kannst du den Duft eines Parfums riechen, den alle anderen längst vergessen haben?«

      Meine Mutter blickte durch mein Fenster hoch zum Mond, bevor sie sich den Staub von der Schürze strich.

      »Es liegt wohl daran, dass ich ständig daran denke.«

      Ihre Stimme klang belegt.

      »Das verstehe ich nicht. Wie kommt es, dass du nie etwas vergessen hast? Erinnerst du dich immer an alles? Bis in alle Ewigkeit?«

      Meine Mutter schlug die Augen nieder, als würde es sich um eine traurige Angelegenheit handeln. Ich gab ihr einen Kuss, um sie zu trösten.

      2

      Meine Mutter starb zuerst, dann mein Vater. Seitdem wohne ich allein in diesem Haus. Vor zwei Jahren erlag auch die Kinderfrau, die sich, seit ich klein war, um mich gekümmert hatte, einem Herzinfarkt.

      Angeblich gibt es noch einige Cousins und Cousinen, die hinter den Bergen im Norden leben sollen, in einem abgelegenen Dorf nahe der Flussquelle, aber ich bin ihnen noch nie begegnet. Wegen der dornenreichen Vegetation in den Bergen, deren Gipfel ständig nebelverhangen sind, kommt es niemandem in den Sinn, sie zu überqueren. Außerdem existiert keine Landkarte – vermutlich waren sie schon vor langer Zeit verschwunden –, sodass niemand weiß, wie die Insel beschaffen ist oder was genau sich hinter den Bergen befindet.

      Mein Vater war Ornithologe. Er forschte in einer Vogelwarte auf dem Hügel im Süden der Stadt. Jedes Jahr verbrachte er vier Monate dort, um Daten zu sammeln, Fotos zu machen und die Brut zu beaufsichtigen. Ich besuchte ihn so oft wie möglich, immer unter dem Vorwand, ihm sein Mittagessen bringen zu müssen. Seine jungen Kollegen waren sehr freundlich zu mir und verwöhnten mich mit Keksen und heißer Schokolade.

      Ich durfte dann auf den Schoß meines Vaters klettern und durch sein Fernglas schauen. Die Schnabelform, die Färbung der Augenringe, die Art und Weise, wie die Vögel ihr Gefieder spreizten – ihm entging nicht das geringste Detail, wenn es um die

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