Insel der verlorenen Erinnerung. Yoko Ogawa

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Insel der verlorenen Erinnerung - Yoko Ogawa

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meines Vaters: Dokumente, Notizen, Fotoalben und Briefe. Sobald sie auf etwas Verdächtiges stießen – wozu lediglich das Wort »Vogel« vorkommen musste –, warfen sie das Schriftstück achtlos auf den Boden. Ich lehnte am Türrahmen und fingerte nervös am Knauf herum, während ich ihrem Treiben zuschaute.

      Ich hatte bereits davon gehört, wie gut ausgebildet sie waren. Ihren Einsatz erledigten sie gründlich und mit großer Effizienz. Sie arbeiteten schweigend und fokussiert, es gab keine überflüssige Geste. Allein das Rascheln der Papiere erinnerte an Vogelflattern.

      Auf dem Fußboden türmte sich im Nu ein großer Papierberg. Es gab praktisch nichts in diesem Raum, was nicht mit Vögeln zu tun hatte. Fotos, die mein Vater während der Tage und Nächte im Observatorium aufgenommen hatte, Schriftstücke mit seiner vertrauten, leicht nach rechts geneigten Handschrift, alles flog wild durch die Gegend.

      Sie richteten ein riesiges Chaos an, gingen dabei aber so präzise vor, dass es den Eindruck einer sorgfältig geplanten Aktion erweckte. Ich wollte sie daran hindern, aber mein Herz klopfte so heftig, dass ich nicht wusste, was ich tun sollte.

      »Bitte geben Sie acht!«

      Mein zaghafter Versuch zeigte keinerlei Wirkung.

      »Das sind die einzigen Andenken an meinen Vater.«

      Die Männer ignorierten mich. Meine Stimme wurde von dem riesigen Haufen aus Erinnerungsstücken förmlich verschluckt.

      Dann zog einer von ihnen die unterste Schublade des Schreibtischs auf.

      »Da ist nichts drin, was mit Vögeln zu tun hat.« Ich versuchte noch, ihn daran zu hindern.

      Ich wusste, dass mein Vater dort Familienfotos und Briefe aufbewahrt hatte. Der Beamte mit den Abzeichen Doppelkreis, Rechteck und Tropfenform ließ sich nicht davon abhalten, auch diese Schublade zu durchwühlen. Lediglich ein Foto wurde aussortiert: eine Aufnahme, die meine Eltern und mich mit einem seltenen, bunt schillernden Vogel zeigte, der im Institut geschlüpft war und an dessen Namen ich mich schon nicht mehr erinnern konnte. Der Beamte stapelte die restlichen Fotos und Briefe ordentlich auf dem Tisch und verstaute sie dann wieder in der Schublade. Dies war die einzige respektvolle Geste des Säuberungskommandos an jenem Tag.

      Als sie mit dem Aussortieren fertig waren, zogen sie große schwarze Plastikbeutel aus ihren Jackentaschen, um alles vom Boden aufzusammeln. Dabei gingen sie so rücksichtslos vor, dass mir klar wurde, alles würde vernichtet werden. Sie suchten nichts Bestimmtes, sondern beseitigten lediglich alle Spuren, die auf Vögel hindeuteten. Die Erinnerungspolizei hatte zu gewährleisten, dass ein Verschwinden endgültig und allumfassend war.

      Ich dachte, dass diese Aktion weitaus einfacher durchzuführen war als jene, bei der ein Spezialkommando meine Mutter verschleppt hatte. Da die Männer nun alles, was ihnen verdächtig vorgekommen war, in die Plastiksäcke gestopft hatten, würden sie wohl nicht wiederkommen. Durch den Tod meines Vaters wäre die im Haus schwebende Erinnerung an die Vögel ohnehin nach und nach verblasst.

      Die ganze Aktion hatte nur eine Stunde gedauert und zehn volle Plastiksäcke ergeben. Die Morgensonne schien ins Büro und hatte den Raum merklich aufgeheizt. Am Kragen der Männer funkelten die blank polierten Abzeichen, aber kein Einziger von ihnen geriet außer Atem oder vergoss einen Tropfen Schweiß.

      Jeder warf sich mühelos zwei Säcke über die Schulter und brachte sie zu einem Lastwagen, den sie draußen vor dem Haus geparkt hatten.

      Nach nur einer Stunde hatte sich das Zimmer völlig verändert. Die Spuren meines Vaters, die ich so sorgsam zu bewahren versucht hatte, waren wie ausgelöscht. Stattdessen herrschte eine Leere, die nicht mehr auszufüllen war. Und inmitten dieser Leere stand ich. Sie war wie ein tiefer Abgrund, der mich zu verschlingen drohte.

      3

      Meinen Lebensunterhalt verdiene ich mit Schreiben. Bisher habe ich drei Bücher veröffentlicht. Mein erster Roman handelt von einem Klavierstimmer, der durch Musikalienhandlungen und Konzertsäle irrt, um nach seiner verschwundenen Geliebten, einer Pianistin, zu suchen, wobei er sich allein auf die von ihr gespielten Töne verlässt, die noch in seinen Ohren klingen. Das zweite Buch dreht sich um eine Ballerina, die bei einem Verkehrsunfall ein Bein verliert und dann gemeinsam mit einem Botaniker in einem Treibhaus lebt. Die Protagonistin meines dritten Romans pflegt ihren jüngeren Bruder, der an einer seltenen Krankheit leidet und bei dem sich nach und nach alle Körperzellen auflösen.

      Es sind alles Geschichten, in denen etwas verschwindet. So etwas mögen die Leute.

      Auf unserer Insel ist die Schriftstellerei eine Tätigkeit, die nicht besonders hoch angesehen ist. Man kann nicht behaupten, dass es hier von Büchern nur so wimmelt. Die Bibliothek neben dem Rosengarten ist eine schäbige Holzbaracke, wo es allenfalls eine Handvoll Besucher gibt. Die vermoderten Bücher kauern in den Regalen, aus lauter Angst, sich in Staub aufzulösen, sobald jemand sie aufschlägt, geschweige denn liest. Die alten Bände werden nicht restauriert, sondern irgendwann entsorgt. Deshalb wird der Bestand in dieser Bibliothek auch niemals wachsen. Aber keiner beklagt sich darüber.

      Mit der Buchhandlung ist es das Gleiche. Im Einkaufsviertel gibt es keinen Laden, der so gespenstisch leer ist. Mit fahlem Teint hockt der Buchhändler mürrisch hinter Stapeln von unverkauften Büchern mit vergilbten Schutzumschlägen.

      Hier leben nur wenige Menschen, die Romane lesen wollen. Meistens arbeite ich von vierzehn Uhr bis Mitternacht an meinem Manuskript. In dieser Zeit schaffe ich etwa fünf Seiten. Ich genieße es, die Kästchen auf dem Papier sorgfältig mit Zeichen auszufüllen. Es gibt schließlich keinen Grund zur Eile. Ich lasse mir sehr viel Zeit, das passende Schriftzeichen für das jeweilige Kästchen zu finden.

      Mein Arbeitsplatz ist das ehemalige Büro meines Vaters. Anders als zu seiner Zeit ist heute alles viel ordentlicher. Denn für meine Romane brauche ich weder Notizen noch irgendwelche Nachschlagewerke. Auf dem Schreibtisch liegen nur ein Stapel Papier, ein Bleistift, eine Klinge zum Anspitzen sowie ein Radiergummi. Aber sosehr ich mich auch anstrenge, es gelingt mir nicht, die Leere zu füllen, die die Erinnerungspolizei hinterlassen hat.

      Gegen Abend mache ich einen einstündigen Spaziergang. Dabei laufe ich an der Küste entlang zum Fähranleger, während ich auf dem Rückweg den Pfad über den Hügel nehme, der an der Vogelwarte vorbeiführt.

      Die Fähre, die bereits seit langer Zeit vertäut im Hafen liegt, ist völlig verrostet. Niemand besteigt sie mehr, um irgendwo hinzufahren. Auch sie gehört zu den Dingen, die von der Insel verschwunden sind.

      Eigentlich sollte der Schiffsname auf dem Bug zu erkennen sein, aber durch die Salzluft ist die Farbe abgeblättert und der Schriftzug nicht mehr lesbar. Die Bullaugen sind blind, der Rumpf, die Ankerkette und die Schiffsschraube von Muscheln und Algen überzogen. Das Schiff sieht aus wie der Kadaver eines riesigen Seeungeheuers, das langsam versteinert.

      Der Mann meiner Kinderfrau hat früher als Mechaniker hier gearbeitet. Als der Fährbetrieb eingestellt wurde, war er eine Zeit lang als Wachmann in einem Lagerhaus am Hafen beschäftigt, heute lebt er an Bord des Schiffs, allein und zurückgezogen. Auf meinem täglichen Spaziergang schaue ich regelmäßig vorbei, um mit ihm zu plaudern.

      »Wie geht es Ihnen?«, fragt der alte Mann und bietet mir einen Stuhl an. »Kommen Sie mit dem Schreiben voran?«

      Auf der alten Fähre gibt es viele verschiedene Sitzgelegenheiten, sodass wir uns je nach Witterung und Laune auf einer Bank an Deck niederlassen oder es uns im Salon auf einem Sofa gemütlich machen.

      »Nun

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