Insel der verlorenen Erinnerung. Yoko Ogawa

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Insel der verlorenen Erinnerung - Yoko Ogawa

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zu schwer für ein kleines Kind wie mich, und meine Arme wurden schnell müde. Dann half mir mein Vater, indem er sie mit einer Hand abstützte.

      Wenn wir so Wange an Wange die Vögel beobachteten, war ich immer versucht, meinen Vater zu fragen, ob er wisse, was sich in den Schubladen der alten Kommode unten im Atelier befindet.

      Aber sobald ich die Worte aussprechen wollte, hatte ich das Gesicht meiner Mutter vor Augen, wie sie durchs Fenster die Mondsichel betrachtete, und ich brachte es nicht übers Herz. Stattdessen begnügte ich mich damit, ihm auszurichten, er solle sein Mittagessen zu sich nehmen, solange es frisch sei.

      Auf dem Rückweg begleitete er mich bis zum Bus. Immer wenn wir am Futterhaus der Vögel vorbeikamen, zerbröselte ich einen der Kekse.

      »Wann kommst du wieder nach Hause?«, fragte ich.

      »Samstagabend, wahrscheinlich …«, erwiderte er dann ausweichend. »Grüß deine Mutter von mir!«

      Er winkte so heftig, dass beinahe die Utensilien aus seiner Brusttasche herausfielen – Rotstift, Textmarker, Lineal, Kompass und Pinzette.

      Ich hielt es für eine glückliche Fügung, dass die Vögel erst nach dem Tod meines Vaters von der Insel verschwanden. Die meisten Bewohner finden schnell eine neue Arbeit, wenn Dinge verschwinden und sie dadurch arbeitslos werden, aber für meinen Vater wäre das unmöglich gewesen. Seine einzige Begabung bestand darin, Vögel zu bestimmen. Unser Nachbar von gegenüber, der von Beruf eigentlich Hutmacher ist, fertigt nun Regenschirme. Der Mann meiner Kinderfrau, ehemals Mechaniker auf der Fähre, arbeitet als Wachmann in einem Lagerhaus. Die ältere Schwester einer Mitschülerin war nicht mehr als Kosmetikerin tätig, sondern als Hebamme. Keiner von ihnen hatte je protestiert. Selbst wenn ihre neue Arbeit nicht so gut bezahlt wurde, trauerte niemand der Vergangenheit hinterher. Es wäre auch viel zu gefährlich gewesen, sich dagegen zu sträuben, denn dann würde vermutlich die Erinnerungspolizei auf sie aufmerksam werden.

      Es fällt tatsächlich allen leicht, die Dinge um sich herum zu vergessen, mich eingeschlossen. So als könnte diese Insel gar nicht anders existieren, als auf einem weiten, leeren Meer dahinzutreiben.

      Die Vögel verschwanden eines Morgens, ganz plötzlich, wie alles andere auch. Als ich im Bett die Augen aufschlug, spürte ich eine gewisse Spannung in der Luft. Es war ein untrügliches Zeichen dafür, dass etwas passiert war. In meine Wolldecke gehüllt, schaute ich mich aufmerksam im Zimmer um. Die Schminksachen auf der Frisierkommode, die auf dem Schreibtisch verstreuten Büroklammern, der Notizblock, die Spitzenvorhänge, das Regal mit den CDs … es hätte alles sein können. Man musste Geduld aufbringen und sich konzentrieren, um feststellen zu können, was genau verschwunden war.

      Ich stand auf, zog mir eine Strickjacke über und ging hinaus in den Garten.

      Die Leute aus der Nachbarschaft standen bereits draußen und inspizierten mit besorgten Mienen die Umgebung. Der Hund von nebenan knurrte leise.

      Da entdeckte ich einen Vogel, der hoch am Himmel flog. Er war klein und rund und hatte ein braunes Gefieder mit weißem Bauch.

      Just in dem Moment, als ich mich fragte, ob er nicht einer von den Vögeln war, die ich zusammen mit meinem Vater auf der Warte beobachtet hatte, merkte ich, dass alles, was mit ihnen zu tun hatte, in mir verblasste. Das Wort »Vogel«, meine Gefühle für diese Tiere, die Erinnerungen an sie – alles war weg.

      »Diesmal sind es die Vögel«, sagte mein Nachbar, der ehemalige Hutmacher. »Meinetwegen gern! Auf die kann man verzichten. Sie fliegen sowieso bloß nutzlos in der Gegend rum.«

      Er nieste und zog sich den Schal fester um den Hals. Dann fiel sein Blick auf mich. Ihm war wohl eingefallen, dass mein Vater Ornithologe gewesen war, denn sein Mund verzog sich zu einem verkniffenen Lächeln, bevor er hastig an seine Arbeit zurückkehrte. Jetzt, wo alle wussten, was gerade im Begriff war zu verschwinden, wirkten sie erleichtert. Ein jeder kümmerte sich wieder um seine Angelegenheiten. Nur ich blieb stehen und starrte weiterhin in den Himmel.

      Nachdem der kleine braune Vogel einen großen Kreis gezogen hatte, flog er in Richtung Norden davon. Ich konnte nicht sagen, zu welcher Art er gehörte. Wäre ich damals nur aufmerksamer gewesen und hätte mir die Vogelnamen gemerkt, als ich gemeinsam mit meinem Vater durch das Fernglas geschaut hatte! Zumindest seinen Flügelschlag, den Klang seines Zwitscherns und die Farbe des Gefieders wollte ich mir einprägen, aber es war sinnlos. Der Vogel, der eigentlich mit der Erinnerung an meinen Vater verwoben sein sollte, weckte keine Gefühle mehr in mir. Er war bloß noch eine Kreatur, die sich durch das Auf und Ab seiner Flügel durch den Himmel bewegte.

      Als ich am Nachmittag auf dem Markt einkaufen ging, traf ich Menschen, die Vogelkäfige mit sich trugen, in denen Sittiche, Javafinken und Kanarienvögel aufgeregt umherflatterten. Vermutlich spürten sie, was ihnen bevorstand. Ihre Besitzer waren verstummt und wirkten leicht benommen, als hätten sie sich noch nicht an die neue Situation gewöhnt.

      Jeder versuchte auf seine Weise, sich von seinem Vogel zu verabschieden. Manche flüsterten ihren Namen, andere rieben die Wange an ihnen oder boten ihnen mit den Lippen Futter an. Nach dieser kleinen Zeremonie öffneten sie die Käfigtüren. Verwirrt flatterten die Vögel eine Weile um ihre Besitzer herum, doch bald waren sie nicht mehr zu sehen. Es schien, als hätte die Weite des Himmels sie aufgesogen.

      Als alle Vögel davongeflogen waren, herrschte Totenstille, sogar der Luft stockte der Atem. Die Menschen nahmen ihre leeren Käfige und gingen nach Hause.

      Damit war das Verschwinden der Vögel besiegelt.

      Am nächsten Tag geschah etwas Unerwartetes. Ich saß beim Frühstück und hatte gerade den Fernseher eingeschaltet, als es an der Tür klingelte. Dem aggressiven Schellen nach ahnte ich bereits, dass sich etwas Unheilvolles anbahnte.

      »Führen Sie uns zum Büro Ihres Vaters!«

      Im Eingangsbereich stand ein Spezialkommando, insgesamt fünf Männer. Sie trugen grüne Uniformen, breite Pistolenhalfter, aus denen ihre Waffen herausragten, schwarze Stiefel und Lederhandschuhe. Die Beamten sahen alle gleich aus und waren nur über verschiedene Abzeichen am Kragen auseinanderzuhalten. Aber mir blieb sowieso keine Zeit, sie genau anzusehen.

      »Führen Sie uns zum Büro Ihres Vaters!«, wiederholte ein zweiter Beamter, im gleichen Tonfall wie der erste. Er hatte drei Abzeichen – Raute, Bohne, Parallelogramm.

      »Mein Vater ist seit fünf Jahren tot.«

      Ich sprach ganz langsam und versuchte, Ruhe zu bewahren.

      »Das wissen wir«, sagte ein weiterer Mann. Seine Abzeichen hatten die Form eines Keils, eines Sechsecks und eines Ts. Wie auf ein Signal hin drangen die Männer ins Haus. Das Trampeln von fünf Paar Stiefeln und das Klirren der Waffen hallten den Flur entlang.

      »Ich habe gerade erst den Teppich gereinigt. Ziehen Sie doch bitte Ihre Stiefel aus!«

      Ich wusste selbst, dass ich energischer hätte reagieren sollen, aber mir fielen nur diese törichten Worte ein. Es war auch nicht von Bedeutung, denn sie stürmten bereits die Treppe hinauf, ohne mich weiter zu beachten.

      Sie schienen die Anordnung der Zimmer im Haus genau zu kennen. Zielstrebig gingen sie ins Arbeitszimmer meines Vaters, wo sie sich sogleich mit einer bemerkenswerten Routine an die Arbeit machten.

      Zunächst riss einer von ihnen sämtliche Fenster auf, die seit dem Tod meines Vaters nicht mehr geöffnet worden waren. Ein anderer benutzte ein längliches, skalpellartiges Werkzeug, um die Schubladen des Sekretärs und des Schreibtischs

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