Insel der verlorenen Erinnerung. Yoko Ogawa

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Insel der verlorenen Erinnerung - Yoko Ogawa

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Sie gut auf sich auf!«, sagt er jedes Mal. »Nicht jeder kann den ganzen Tag am Schreibtisch sitzen und sich komplizierte Sachen ausdenken. Wenn Ihre Eltern noch am Leben wären, wären sie bestimmt sehr stolz.«

      Er nickt, um seinen Worten Nachdruck zu verleihen.

      »Einen Roman zu schreiben ist keine großartige Angelegenheit. Ich denke, es ist viel schwieriger, einen Schiffsmotor zu zerlegen, einzelne Teile auszutauschen und ihn dann wieder zusammenzubauen.«

      »Ach, woher! Da die Schiffe verschwunden sind, gibt es ja sowieso nichts mehr für mich zu tun.«

      Für einen Moment herrscht Schweigen.

      »Übrigens, heute habe ich ein paar erstklassige Pfirsiche bekommen. Ich werde sie für uns aufschneiden.«

      Der Alte verschwindet in der Kombüse neben dem Maschinenraum. Die Pfirsichscheiben serviert er auf einem mit Eis gekühlten und mit Minzblättern dekorierten Teller. Dazu hat er eine Kanne schwarzen Tee gebrüht. Er ist nicht nur sehr geschickt im Umgang mit Maschinen, sondern auch mit Speisen und Pflanzen.

      Er ist immer der Erste, dem ich ein gedrucktes Exemplar meiner Bücher überreiche. »Ah, sieh an, das ist also Ihr neuer Roman«, sagt er dann, wobei er das Wort »Roman« voller Ehrfurcht ausspricht. Sobald er das Buch in Händen hält, verbeugt er sich. Er behandelt es, als wäre es eine Reliquie.

      »Vielen Dank, haben Sie vielen Dank.«

      Seine Stimme klingt belegt, als wäre er den Tränen nah, was wiederum mich verlegen macht. Leider hat er nie eine Seite meiner Romane gelesen.

      Einmal habe ich ihn gefragt, wie ihm meine Bücher gefallen. Er gab mir eine verblüffende Antwort.

      »Ich kann es nicht sagen. Das wäre sehr unvernünftig. Wenn ich ein Buch lesen würde, wäre ja die Geschichte aus und vorbei. Was für eine Verschwendung! Ich verwahre das Buch lieber und halte es in Ehren.«

      Dann legte er es auf den Altar, der sich in der Kapitänskajüte befand und der den Göttern des Meeres gewidmet war, und faltete die Hände zum Gebet.

      Beim Essen unterhalten wir uns über alles Mögliche, oft schwelgen wir einfach nur in Erinnerungen. Wir sprechen über meinen Vater, meine Mutter, über seine Frau, die sich um mich gekümmert hatte, über die Vogelwarte, über die Skulpturen meiner Mutter, über die alten Tage, als man noch mit der Fähre zu anderen Orten fahren konnte … Aber unsere Erinnerungen daran verblassen von Tag zu Tag, denn wenn Dinge verschwinden, gehen auch unsere Gedanken daran verloren. Wir teilen uns die Pfirsiche und lassen sie uns auf der Zunge zergehen, so wie die alten Geschichten, die wir uns immer wieder erzählen.

      Wenn die Abendsonne im Meer versinkt, gehe ich von Bord. Obwohl die Gangway nicht sehr steil ist, geleitet mich der alte Mann stets an Land. Er behandelt mich immer noch wie das kleine Mädchen, das ich einst war.

      »Passen Sie gut auf sich auf und kommen Sie heil nach Hause!«

      »Ja, bis morgen dann.«

      Er schaut mir so lange nach, bis ich außer Sichtweite bin.

      Nach meinem Besuch im Hafen klettere ich für gewöhnlich den Hügel hinauf zur Vogelwarte. Aber dort halte ich es nie lange aus. Beim Anblick des Meeres hole ich ein paar Mal tief Luft, dann steige ich wieder hinab. Auch hier haben die Erinnerungspolizisten ganze Arbeit geleistet und eine Ruine hinterlassen. Nichts erinnert mehr an die Vogelwarte, die wissenschaftlichen Mitarbeiter haben sich in alle Winde zerstreut.

      Wenn ich vor dem Fenster stehe, aus dem ich zusammen mit meinem Vater durch das Fernrohr blickte, kommen auch heute noch Vögel angeflattert, aber sie führen mir vor Augen, dass sie für mich keine Bedeutung mehr haben.

      Wenn ich unten angekommen bin und die Stadt durchquere, ist die Sonne bereits untergegangen. Abends wird es ruhig auf der Insel. Nach Dienstschluss verlassen die Menschen ihren Arbeitsplatz, die Kinder laufen nach Hause, Lieferwagen, die Waren zum Markt gebracht haben, rumpeln leer und mit knatterndem Motor vorbei. Und dann kehrt Stille ein. Als würde sich die ganze Insel darauf vorbereiten, dass morgen wieder etwas verschwindet.

      So bricht die Nacht über uns herein.

      4

      Als ich am Mittwochnachmittag mein Manuskript in den Verlag brachte, begegnete ich unterwegs einem Spähtrupp. Es war das dritte Mal in diesem Monat.

      Sie wurden zusehends rücksichtsloser und gewalttätiger. Seit fünfzehn Jahren schon trieben sie ihr Unwesen, denn so lange war es her, dass meine Mutter verschleppt wurde.

      Damals gab es außer ihr noch andere unbeugsame Menschen, die ihre Erinnerungen an Verlorenes nicht aufgeben wollten. Einer nach dem anderen wurde von der Erinnerungspolizei aufgespürt und weggeschafft. Niemand wusste, wohin man sie brachte.

      Ich war gerade aus dem Bus gestiegen und wartete auf das Signal zum Überqueren der Straße, als drei grüne Armeelastwagen sich der Kreuzung näherten. Die anderen Fahrzeuge verlangsamten ihr Tempo und fuhren an die Seite, um sie vorbeizulassen. Die Lastwagen hielten vor einem Gebäude, in dem sich eine Zahnarztpraxis befand, eine Versicherungsgesellschaft sowie ein Tanzstudio. Etwa zehn bewaffnete Männer sprangen heraus und stürmten ins Haus. Den Leuten auf der Straße stockte der Atem. Einige versteckten sich ängstlich in Seitenstraßen. Alle schienen inständig zu hoffen, dass das, was sich vor ihren Augen abspielte, möglichst bald vorbei sei, ohne dass sie selbst in die Sache hineingezogen wurden. Eine gespenstische Stille umgab die Lastwagen, die ganze Umgebung war wie erstarrt.

      Ich selbst stand stocksteif hinter einem Laternenpfahl, den Umschlag mit dem Manuskript an die Brust gedrückt. Die Ampel sprang derweil von Grün auf Gelb, dann auf Rot und wieder auf Grün. Niemand überquerte den Fußgängerüberweg. Die Fahrgäste in der Straßenbahn blickten zu uns nach draußen. Der Umschlag an meiner Brust war mittlerweile ganz zerknittert.

      Kurz darauf hörte man Schritte. Es waren energische, rhythmische Schritte von Armeestiefeln, begleitet von Schritten, die eher schleppend waren, zögerlich. Verschiedene Leute traten aus dem Gebäude, einer nach dem anderen. Zwei ältere Herren, eine etwa dreißigjährige Frau mit rotbraun gebleichtem Haar, ein mageres Mädchen von etwa zwölf Jahren. Obwohl die kalte Jahreszeit noch nicht angebrochen war, trugen sie mehrere Hemden und Blusen unter ihren Mänteln und hatten mehrere Tücher um den Hals geschlungen. Außerdem hatten sie prall gefüllte Reisetaschen und Koffer bei sich. Anscheinend wollten sie so viele nützliche Sachen wie möglich mitnehmen. Ihr Anblick – die hastig übergeworfenen Kleidungsstücke, die schlecht geschlossenen Taschen, aus denen der Inhalt herausquoll, die offenen Schnürsenkel –, alles deutete darauf hin, dass sie völlig unvorbereitet und auf die Schnelle hatten packen müssen. Mit der Waffe im Rücken wurden sie aus dem Haus getrieben. Dennoch wirkten die vier keineswegs verzweifelt. Ruhig schweifte ihr Blick in die Ferne. Darin lagen Erinnerungen verborgen, von denen wir nichts wussten.

      Wie üblich erledigten die Uniformierten mit den blitzenden Abzeichen am Revers ihre Arbeit, ohne auch nur eine Sekunde zu verschwenden. Vier Beamte schritten an uns vorbei. Der stechende Geruch von Desinfektionsmittel stieg mir in die Nase. Vielleicht hatte man jemanden aus der Zahnarztpraxis festgenommen.

      Die Verhafteten wurden einer nach dem anderen auf die mit Planen verhängte Ladefläche des Lastwagens gestoßen. Die Waffen waren die ganze Zeit auf sie gerichtet. Als Letzte war das Mädchen dran, das seine orangefarbene, mit einem Teddybär bestickte Tasche auf die Ladefläche warf, um dann selbst hochzusteigen, aber der Tritt war offensichtlich für die Kleine zu hoch

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