Lockdown 2020. Rolf Gössner
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Zivilisatorische Errungenschaft
Um es gleich vorweg zu sagen: Ich halte die 1948 parallel zu den Vereinten Nationen gegründete Weltgesundheitsorganisation für eine der größten zivilisatorischen Errungenschaften. Ihr erklärter Zweck liegt darin, allen Völkern zur Erreichung des bestmöglichen Gesundheitszustandes zu verhelfen. In der wegweisenden Erklärung von Alma-Ata aus dem Jahr 1978 definierten die Mitgliedsstaaten Gesundheit als »Zustand von vollständigem physischen, geistigen und sozialen Wohlbefinden, der sich nicht nur durch die Abwesenheit von Krankheit oder Behinderung auszeichnet«. Dabei wurden auch soziale und ökonomische Aspekte betont, die Voraussetzung für das Erreichen dieses Ziels sind. Jeder human denkende Mensch wird ein solches Ziel unterstützen.
Als größte Leistung der WHO gilt zu Recht die Ausrottung der Pocken durch eine weltweit koordinierte Impfkampagne. In Europa starben noch im 19. Jahrhundert ca. 400.000 Menschen jährlich an dieser Virus-Erkrankung, ein Drittel der Überlebenden erblindete. Schon 1958 von der damaligen sowjetischen Delegation eingebracht, startete die WHO schließlich 1967 das weltweite Anti-Pocken-Programm. 1980 konnten die Pocken für ausgerottet erklärt werden. Auch die Poliomyelitis (Kinderlähmung) wurde durch die 1987 gestartete Kampagne der WHO weitgehend eliminiert und tritt nur noch in drei Ländern auf – Afghanistan, Pakistan und Nigeria.
Aber auch in diesem seuchenpolitisch »goldenen Zeitalter« der WHO gab es kritikwürdige Vorgänge: So verabschiedete die WHO 1959 eine Resolution, die sie in Fragen der Radioaktivität an die Internationale Atomenergiebehörde (IAEA) bindet – eine Behörde, die sich der Förderung der zivilen Atomenergie verschrieben hat. Entsprechend geschönt und verharmlosend waren in der Folge die Stellungnahmen der WHO zu den gesundheitlichen Auswirkungen etwa der Reaktorkatastrophen in Tschernobyl oder Fukushima. Bis heute ist diese Resolution in Kraft.
Zeitalter des Neoliberalismus
Seit dem weltweiten Siegeszug des Neoliberalismus in den 1990er-Jahren stehen internationale Organisationen unter Druck, sich der wachsenden Macht von privaten Akteuren zu öffnen. Das gilt nicht nur für die WHO, sondern etwa auch für die Welternährungsorganisation FAO, das Kinderhilfswerk UNICEF, die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) oder den Europarat. Im Falle der WHO setzten 1993 die USA unter George Bush zunächst durch, dass die Pflichtbeiträge der Mitgliedsstaaten eingefroren wurden: Das schon in den 1980er-Jahren eingeführte reale Nullwachstum wurde durch ein nominelles Nullwachstum ersetzt.70 Inflations- oder Währungsschwankungen wurden nicht mehr ausgeglichen und der Haushalt sinkt damit alljährlich real, also inflationsbereinigt.
In die so organisierte Finanzierungslücke traten zunehmend freiwillige programmgebundene Beiträge der Mitgliedsstaaten sowie private Akteure mit ihren jeweiligen Interessen. Unter dem Strich bedeutet diese Entwicklung, dass die WHO sich heute nur noch zu etwa 20 Prozent aus regulären Mitgliedsbeiträgen finanziert, über die sie frei verfügen kann, während ca. 70 Prozent der Mittel zweckgebunden sind. Vor 30 Jahren machten die Mitgliedsbeiträge hingegen noch etwa die Hälfte der Einnahmen aus.71
Im Rahmen meiner Corona-Berichterstattung für den Europarat72 hatte ich im Juni 2020 die Möglichkeit, den Generaldirektor der WHO, Tedros Adhanom Ghebreyesus, nach den Folgen dieser Entwicklung zu fragen. Er bestätigte diese Zahlen und sagte: »Das beeinträchtigt unsere Arbeit.« Was auf der Hand liegt: Mit den »freiwilligen Beiträgen« bestimmt der Geber, was gemacht wird. Die sozialen Determinanten von Gesundheit, also Wohn- und Arbeitsverhältnisse, gesunde Ernährung und Zugang zu sauberem Trinkwasser, die in der Geschichte der WHO durchaus eine Rolle gespielt hatten, treten zugunsten rein kurativ-medizinischer Faktoren – also vermarktbare Medikamente und Impfstoffe – immer mehr in den Hintergrund. Auch in der gegenwärtigen Frage der Strategien gegen Covid-19 werden diese relevanten sozialen Faktoren weitgehend ausgeblendet.
Heimlicher WHO-Chef Bill Gates?
Der Zwei-Jahres-Etat der WHO für die Jahre 2018 und 2019 betrug 5,9 Milliarden US-Dollar, also pro Jahr knapp drei Milliarden Dollar. Damit hatte die weltweit tätige UNO-Gesundheitsorganisation pro Jahr nur wenig mehr Geld zur Verfügung, als beispielsweise die Berliner Charité (zwei Milliarden Euro Gesamteinnahmen in 2019). Allein die Bill & Melinda Gates Foundation (BMGF) gibt nach eigenen Angaben pro Jahr vier Milliarden Dollar aus – deutlich mehr als die WHO –, wovon in den Jahren 2016 und 2017 wiederum 629 Millionen an die WHO gingen. Damit war sie zweitgrößte Einzelspenderin. Mit dem Austritt der USA wird die Stiftung zum größten Einzelfinancier der WHO werden – mehr als jeder Staat der Erde.
Dabei ist es vom demokratischen Standpunkt unerheblich, ob man Bill Gates wohltätige oder bösartige Motive unterstellt. Die Kritik am Feudalismus als System gründet sich ja auch nicht an der Haltung dieses oder jenes Königs. Dass ein einzelner Mensch Kraft seines akkumulierten Kapitals einen solchen Einfluss auf die Weltgesundheit hat, ist mit demokratischen Prinzipien völlig unvereinbar. Es ist auch ein direktes Ergebnis der in der neoliberalen Ära beschleunigten und immer wieder beklagten Vermögenskonzentration. Das Problem dieses obszönen Reichtums liegt ja nicht nur darin, dass der Reichtum der einen die Armut der anderen bedingt, wie Brecht es einmal formulierte und wo die Kritik mancher Linker stehen bleibt, sondern auch darin, dass der Reichtum verwendet werden kann, die Gesellschaft nach den eigenen Vorstellungen und Interessen zu formen. Und genau das können wir bei der Weltgesundheit beobachten.
Fast alle großen Unternehmen unterhalten Stiftungen, die natürlich zunächst für einen guten Zweck gegründet werden. Dabei geht es jedoch primär darum, Politik und Gesellschaft im Interesse der Stiftungsgründer zu beeinflussen. Das Stiftungskapital der Gates-Foundation von knapp 50 Milliarden Euro ist in Konzernen wie Coca-Cola, Walmart, Monsanto (seit 2018 Teil von Bayer), aber auch in der Rüstungs- und Pharmabranche investiert. So entstehen zwangsläufig Interessenskonflikte. Denn die Profitinteressen dieser Konzerne widersprechen gesundheitspolitischen Zielen fundamental. So macht die Stiftung auf der einen Seite Gewinne mit Produkten, die Krankheiten wie Diabetes verursachen, an deren Folgen weltweit rund vier Millionen Menschen pro Jahr sterben. Oder – Beispiel Nestlé – mit Ersatzprodukten für Muttermilch, die Müttern als vermeintlich bessere Alternative zum Stillen verkauft werden. Diese Gewinne werden dann teilweise in die Förderung von Gesundheit investiert.
Dabei werden vor allem technische und konkret messbare Lösungen bevorzugt, beispielsweise Impfkampagnen oder die Verteilung von Moskitonetzen. Dies ist zwar an sich nicht schlecht, führt jedoch dazu, dass andere wichtige Bereiche wie eine Stärkung der Primärversorgung und ein Fokus auf die Lebens- und Arbeitsbedingungen, die Krankheiten wahrscheinlicher machen, vernachlässigt werden.
Der Journalist Thomas Kruchem fasste das Dilemma wie folgt zusammen: »Für die Gates-Stiftung heißt dies: Je mehr Profite die genannten Firmen machen, desto mehr Geld kann sie für die WHO ausgeben. Für die WHO heißt es: Mit jeder Maßnahme gegen gesundheitsschädliche Aktivitäten der Süßgetränke-, Alkohol- und Pharmaindustrie würde die WHO die Gates-Stiftung daran hindern, das Geld zu erwirtschaften, mit dem die Stiftung die WHO finanziert. Kurz, die Weltgesundheitsorganisation steckt in einem klassischen Interessenkonflikt, der sie in ihren Handlungsmöglichkeiten schwächt und der angesichts ihrer finanziellen Abhängigkeit von der Gates-Stiftung unter den gegenwärtigen