Kursbuch 203. Группа авторов
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Diese Bedingungen geraten unter Druck: nationalstaatliche Autonomie, volatile Märkte mit tiefem globalem Vernetzungsgrad ebenso wie die durch Digitalisierung ungeklärte Frage des Beitrags der arbeitenden Menschen an der Wertschöpfung, die Frage der kulturellen Zugehörigkeit ebenso wie die Asymmetrie von Milieus und Geschlechtern haben diese Passung infrage gestellt. Jedenfalls zeichnet sich ab, dass die klassischen politischen Positionen nicht mehr genügend Konfliktpotenzial entfalten, um angesichts dieser Herausforderungen konkurrierende Lösungen für diese Überlebensfrage anzubieten. Zumindest sollte deutlich geworden sein, welche Sprengkraft die gesellschaftliche Institutionalisierung von Kontinuität und Überlebensbedingungen der Menschen birgt. Die Frage ist tatsächlich: Passen wir überhaupt in diese Welt?
Der Streit um die Identitätspolitik, der derzeit geführt wird, gehört übrigens direkt in diese Kategorie von Konflikt. Der Vorwurf gegen identitätspolitische Ansprüche lautet oft: Ihr kümmert euch nicht um die klassischen Konflikte der modernen Gesellschaft, um gerechte Verteilung von Gütern und Daseinsvorsorge, sondern nur um kulturelle Repräsentation. Und in der Tat geht es hier um Zugehörigkeiten und Anerkennungsverhältnisse, aber damit gehören sie geradezu in den klassischen Kanon der kontingenten und fragilen Herstellung von Orten, an denen sich Personen bewegen können. Denn gerade die Komplexität der Gesellschaft und ihre Indifferenz für konkrete Lebenslagen erzeugen geplante und ungeplante Strukturierungen von Zugehörigkeit und Anerkennung in bestimmten Räumen. Identitätspolitische Fragen docken vor allem an zugeschriebenen Merkmalen an – am Geschlecht, an der ethnischen Herkunft, an der Hautfarbe oder an der sexuellen Orientierung, und damit versuchen sie letztlich ähnliche Probleme zu lösen wie frühere Institutionenarrangements.
Weist das womöglich in die Richtung, in der Gesellschaften in Zukunft dieses Bezugsproblem lösen? Vielleicht – und wenn ja, wären das völlig andere Konstellationen als die bisherigen. Vielleicht sind sie auch nur ein Übergangsphänomen dort, wo die klassischen Institutionenarrangements noch einigermaßen funktionieren – deshalb ist die entsprechende Trägergruppe solcher Debatten auch eher weniger nah an der ökonomischen Wertschöpfungskette und doch in ökonomisch vergleichsweise stabilen und wenig volatilen Zusammenhängen zu finden. Vielleicht ist es ein Übergangsphänomen. Und vielleicht ist es eher das chinesische Modell, das sich durchsetzen wird, in dem der Zusammenhang von Individualität und Kontrolle ganz anders gelöst wird, aber eben auch über eine starke Semantik der Zugehörigkeit.
Zum Schluss: Überleben mit dem Virus
Die weltweite Covid-19-Krise ist ein guter Indikator für die Frage des Überlebens – im unmittelbaren Sinne. Man kann hier die unterschiedlichen Ergebnisse solcher institutioneller Überlebensarrangements in unterschiedlichen sozialpolitischen Regimes besichtigen – der eklatante Unterschied der Auswirkungen der gegenwärtigen Krise in den Vereinigten Staaten und etwa in Deutschland liegt nicht nur an den politischen Akteuren, sondern vor allem daran, wie unterschiedlich in den beiden Ländern so etwas wie ein Kontinuitätsmanagement des Überlebens ermöglicht wird. In Deutschland zahlt sich der stabile Sozialstaat ebenso aus wie eine robuste Förderpolitik für bestimmte Branchen. Das weitgehend frei zugängliche Gesundheitssystem und das Kurzarbeitergeld sind zwei Beispiele für die auch kurzfristige Bearbeitung von Diskontinuitäten zur Aufrechterhaltung von Strukturen – von unternehmerischen Strukturen ebenso wie von Strukturen zur Herstellung persönlicher Kontinuität. Die Unterschiede sind hier eklatant. Das US-Modell mit einer kaum wirksamen Sozialpolitik und einer für viele unzugänglichen medizinischen Versorgung trotz der wohl weltweit besten Hochleistungsmedizin stellt Überlebensbedingungen in Krisensituationen schlicht infrage. Zugleich erzeugt ein solches Arrangement eine deutliche strukturelle Ausgrenzung wohldefinierter Gruppen aus den Leistungsbereichen des Bildungs- und des Medizinsystems, aber auch im Hinblick auf ökonomische Sicherheit und Sicherheit für Leib und Leben.
An der Covid-19-Krise lässt sich jedenfalls die Fragilität gesellschaftlicher Überlebensarrangements gut ablesen – und damit ist nicht nur die medizinische Überlebensfrage gemeint. Wie sehr die Kontinuität unseres Lebens und ihrer erwartbaren Strukturen von vielfältigen und komplexen Bedingungen und Regelkreisen abhängig ist, lässt sich daran beobachten, wie schnell ökonomisch stabile Strukturen und mit ihnen Arbeitsplätze verschwinden, wenn der cashflow nur für kurze Zeit unterbrochen wird, wie sehr der cashflow davon abhängig ist, dass man als Kunde mit öffentlichen Verkehrsmitteln fahren kann, wie selbst einfache Produktionsketten davon abhängig sind, dass Zulieferung aus anderen Regionen und Ländern sichergestellt ist, wie sehr die Geschlechtergleichheit davon abhängig ist, dass Kinderbetreuungseinrichtungen geöffnet haben und wie sehr deren Öffnungszeiten von der Kontakthäufigkeit der Kinder und des Betreuungspersonals an anderen Orten abhängig sind. Man sieht in der Krise, wie die Familie als Kontinuitätsraum von der Diskontinuität der Kontakte ihres Personals abhängig ist, um nicht überlastet zu werden. Und man lernt, wie radikal die Unterbrechung von Bildungsprozessen Aufmerksamkeit erzeugt. Wir lernen in der Krise, wie existenziell wichtig zum Teil schlecht bezahlte Berufe im Einzelhandel, in der Krankenpflege und in der Müllabfuhr für die Kontinuität des Alltagslebens sind. Und wir werden sichtbar darauf aufmerksam gemacht, wie sehr private Versorgungs- und Pflegeleistungen geradezu Bedingung der Möglichkeit einer funktionierenden Lebensform sind. Wir lernen sogar, dass der sinnlose Konsum von Dingen, die niemand braucht, von der Wirtschaft gebraucht wird, um jene Kontinuität von Geldfluss herzustellen, der auch kontinuierliche Lebensformen zumindest für die erzeugt, die nicht über hohe Vermögen verfügen. Und wir lernen, wie abhängig wir von Infrastrukturen der Energie-, Geld-, Wasser-, Arzneimittel- und der Nahrungsmittelversorgung sind. Zugleich erleben wir, wie schwer jene Umstellung unserer Lebensform zu bewerkstelligen ist, die für die Bewältigung etwa des Klimawandels notwendig ist, ohne die Interdependenzen jener fragilen Wechselwirkungen infrage zu stellen. Die Krise lässt jedenfalls diese Grundfrage der gesellschaftlichen Moderne sehr sichtbar werden: Passen wir überhaupt in diese Welt? Die Antwort lautet streng genommen: Nein. Das wussten offensichtlich schon die Romantiker und die Gegenaufklärer vor 200 Jahren.
Anmerkungen
1 Zur philosophischen Frühromantik vgl. Manfred Frank: »Unendliche Annäherung«. Die Anfänge der philosophischen Frühromantik. Frankfurt am Main 1998.
2 Vgl. Joseph de Maistre: Von der Souveränität. Ein Anti-Gesellschaftsvertrag. Berlin 2016, S. 8.
3 Vgl. Stephen Emmott: Zehn Milliarden. Berlin 2013.
4 Vgl. dazu Hans Rosling: Factfulness. Berlin 2018.
5 Vgl. dazu Armin Nassehi: Die letzte Stunde der Wahrheit. Kritik der komplexitätsvergessenen Vernunft, 3. Aufl. Hamburg 2019, S. 106 ff.
6 Vgl. Martin Kohli: »Die Institutionalisierung des Lebenslaufs. Historische Befunde und theoretische Argumente«, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 37 (1985), S. 1–29; ders.: »Die Institutionalisierung des Lebenslaufs. Ein Blick zurück und nach vorne«, in: Jutta Allmendinger (Hrsg.): Entstaatlichung und soziale Sicherheit. Opladen 2003, S. 525–546.
7 Vgl. John W. Meyer: »The Self and the Life Course. Institutionalization and its