Die Abenteuer des Sherlock Holmes. Arthur Conan Doyle
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Читать онлайн книгу Die Abenteuer des Sherlock Holmes - Arthur Conan Doyle страница 9
»Ich dachte, Sie seien beschäftigt.«
»Das bin ich auch. Sehr sogar.«
»Dann will ich gern im Nebenzimmer warten.«
»Das kommt nicht in Frage. Dieser Gentleman, Mr. Wilson, ist bei vielen meiner erfolgreichsten Fälle mein Partner und Helfer gewesen, und ich zweifle nicht daran, daß er mir auch in Ihrem Fall überaus nützlich sein wird.«
Der stämmige Gentleman erhob sich zur Hälfte aus seinem Sessel, nickte grüßend und warf mir aus seinen kleinen, von Fettkringeln umgebenen Augen einen schnellen, fragenden Blick zu.
»Nehmen Sie das Sofa«, sagte Holmes; er ließ sich wieder in seinen Lehnsessel sinken und legte die Fingerspitzen aneinander, wie gewöhnlich, wenn er in scharfem Denken begriffen war. »Ich weiß, mein lieber Watson, daß Sie meine Liebe für alles Bizarre teilen, das außerhalb der Konventionen und des Alltagseinerleis liegt. Ihr Gefallen daran haben Sie durch die Begeisterung gezeigt, mit der Sie viele meiner kleinen Abenteuer aufgezeichnet und, wenn Sie mir diese Bemerkung erlauben, gern auch ausgeschmückt haben.«
»Ihre Fälle haben wirklich immer mein größtes Interesse gefunden«, bemerkte ich.
»Sie werden sich daran erinnern, daß ich vor einiger Zeit, kurz bevor wir uns mit dem sehr einfachen Problem beschäftigten, das uns Miss Mary Sutherland9 vorlegte, angemerkt habe, daß jemand, der merkwürdige Vorfälle und außergewöhnliche Zusammenfügungen haben will, sich dem Leben selbst zuwenden muß, das immer viel kühner ist als alle Höhenflüge der Phantasie.«
»Eine Behauptung, die anzuzweifeln ich mir erlaubt habe.«
»So ist es, Doktor, aber trotzdem müssen Sie sich zu meiner Ansicht bequemen; andernfalls werde ich Tatsachen über Tatsachen auf Sie häufen, bis Ihr Verstand darunter zusammenbricht und zugibt, daß ich recht habe. Nun hat heute morgen Mr. Jabez Wilson hier die Freundlichkeit besessen, mich aufzusuchen, und begonnen, mir eine Geschichte zu erzählen, die eine der ausgefallensten zu sein verspricht, die ich seit langem vernommen habe. Sie haben sicher meine Feststellung gehört, daß die seltsamsten und einzigartigen Dinge sehr oft nicht mit den großen, sondern mit den kleineren Verbrechen zusammenhängen oder gelegentlich sogar dort zu finden sind, wo man bezweifeln darf, daß ein eindeutiges Verbrechen überhaupt begangen worden ist. Soweit ich bis jetzt gehört habe, ist es mir unmöglich, zu sagen, ob im vorliegenden Fall ein Verbrechen vorliegt oder nicht, aber der Ablauf der Ereignisse gehört gewiß zu den seltsamsten Dingen, denen ich je gelauscht habe. Vielleicht hätten Sie die große Güte, Mr. Wilson, mit Ihrer Erzählung noch einmal von vorn zu beginnen. Ich bitte Sie darum nicht nur, weil mein Freund Dr. Watson den Beginn nicht gehört hat, sondern auch, weil die Eigentümlichkeit Ihrer Geschichte mich wünschen läßt, jede nur denkbare Einzelheit aus Ihrem Munde zu erfahren. In der Regel bin ich imstande, wenn ich erst einige einfache Hinweise auf den Ablauf der Dinge erhalten habe, mich selbst darin zurechtzufinden, und zwar mit Hilfe der tausende ähnlicher Fälle, deren ich mich entsinne. Im vorliegenden Fall muß ich jedoch zugeben, daß die Tatsachen, soweit ich dies glaube beurteilen zu können, einmalig sind.«
Mit einem Anflug von leisem Stolz wölbte der stattliche Klient seine Brust und zog eine schmutzige, zerknüllte Zeitung aus der Innentasche seines Paletots. Während er die Spalte mit Annoncen überflog, mit vorgestrecktem Kopf und auf den Knien ausgebreiteter Zeitung, sah ich mir den Mann gründlich an und versuchte, nach der Art meines Gefährten das zu lesen, was seine Kleidung oder sein Äußeres an Hinweisen enthalten mochten.
Ich gewann jedoch nicht viel durch meine Prüfung. Unser Besucher wies alle Kennzeichen eines durchschnittlichen, normalen britischen Geschäftsmannes auf: beleibt, wichtigtuerisch, behäbig. Er trug ziemlich ausgebeulte, grauweiß karierte Wollhosen, einen nicht übermäßig sauberen, vorn aufgeknöpften Gehrock, eine mausgraue Weste mit einer kurzen schweren Uhrkette aus Messing und einem viereckigen, durchbohrten Metallstück, das zur Zierde daran baumelte. Ein abgeschabter Zylinder und sein ausgeblichen brauner Mantel mit runzligem Samtkragen lagen auf einem Stuhl neben ihm. So genau ich auch hinsehen mochte, alles in allem war an diesem Mann nichts besonders bemerkenswert, abgesehen von seinem feuerroten Schopf und dem auf seinen Zügen liegenden Ausdruck von großem Kummer und Unzufriedenheit.
Sherlock Holmes' schnelles Auge nahm meine Beschäftigung wahr, und lächelnd schüttelte er den Kopf, als er meine fragenden Blicke bemerkte. »Neben den offensichtlichen Tatsachen, daß er zu irgendeiner Zeit mit seinen Händen gearbeitet hat, daß er Tabak schnupft, daß er Freimaurer ist, daß er in China war und daß er in der letzten Zeit sehr viel geschrieben hat, kann ich nichts deduzieren.«
Mr. Jabez Wilson fuhr in seinem Sessel auf; sein Zeigefinger lag auf der Zeitung, seine Augen jedoch auf meinem Gefährten.
»Wie um alles in der Welt können Sie das wissen, Mr. Holmes?« fragte er. »Woher wissen Sie zum Beispiel, daß ich mit den Händen gearbeitet habe? Es ist so wahr wie die Bibel, ich habe als Schiffszimmermann angefangen.«
»Ihre Hände, mein lieber Sir. Ihre rechte Hand ist um einiges größer als Ihre linke. Sie haben mit ihr gearbeitet, und die Muskeln sind besser entwickelt.«
»Gut, und der Schnupftabak, und die Freimaurerei?«
»Ich will Ihre Intelligenz nicht dadurch beleidigen, daß ich Ihnen erzähle, woran ich das ablesen kann, vor allem da Sie, wohl eher gegen die strikten Weisungen Ihres Ordens, eine Brosche mit Bogen und Zirkel tragen.«
»Ah, natürlich, das hatte ich vergessen. Aber die Schreibarbeit?«
»Was sonst könnte es bedeuten, daß Ihr rechter Ärmelaufschlag bis fast fünf Zoll oberhalb des Handgelenks so glänzt und daß der linke Ärmel am Ellenbogen da glatt ist, wo Sie den Arm auf den Tisch stützen?«
»Nun gut, aber China?«
»Ein Fisch, wie Sie ihn unmittelbar über dem rechten Handgelenk tätowiert tragen, kann nur in China verfertigt worden sein. Ich habe mich ein wenig mit Tätowierungen beschäftigt und sogar einen Beitrag zur Literatur über dieses Thema geleistet. Diese Art, die Fischschuppen zartrosa zu tönen, ist nur in China üblich. Wenn ich zusätzlich dazu eine chinesische Münze an Ihrer Uhrkette hängen sehe, wird die Sache noch einfacher.«
Mr. Jabez Wilson lachte betroffen. »Also, das hätte ich nicht für möglich gehalten!« sagte er. »Zuerst habe ich gemeint, Sie tun da etwas besonders Schlaues, aber jetzt sehe ich, daß gar nichts dabei ist.«
»Ich beginne zu fürchten, Watson«, sagte Holmes, »daß ich einen Fehler begehe, indem ich erkläre. Omne ignotum pro magnifico,10 Sie wissen ja, und meine bescheidene Reputation, wenn es sie denn gibt, wird Schiffbruch erleiden, wenn ich so aufrichtig bin. Können Sie die Anzeige nicht finden, Mr. Wilson?«
»Doch, hier habe ich sie endlich«, erwiderte er; sein dicker rötlicher Finger zeigte auf eine Stelle etwa in der Mitte der Spalte. »Da ist sie. Damit hat alles angefangen. Sie müssen das selbst lesen, Sir.«
Ich nahm die Zeitung aus seinen Händen und las das Folgende:
An die Liga der Rotschöpfe – In Zusammenhang mit dem Vermächtnis des verstorbenen Ezekiah Hopkins aus Lebanon, Penn, U.S.A., ist nun eine weitere Stelle zu besetzen, die ein Mitglied der Liga für rein symbolische Dienste zu einem Wochenlohn von vier Pfund berechtigt. Alle rotschöpfigen Männer, die körperlich und geistig gesund und älter als einundzwanzig Jahre sind, kommen hierfür in Frage. Bewerben Sie sich persönlich am Montag, um elf Uhr, bei Duncan Ross in den Geschäftsräumen