Sophienlust Paket 4 – Familienroman. Patricia Vandenberg
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Insgeheim sah Betti einer neuerlichen Fahrt mit dem Zug nur mit Grauen entgegen. Aber es half nichts, sie musste ihre Furcht überwinden und durfte sie dem Kind nicht zeigen.
Mit gemischten Gefühlen verabschiedete sie sich von Andrea von Lehn, die sie und Evi wie versprochen zum Bahnhof nach Maibach gebracht hatte.
»Und schicken Sie mir ein Telegramm, wann Sie zurückkommen?«, rief Andrea ihr nach. Betti hatte den genauen Termin ihrer Rückkehr nicht angeben können, da es schließlich ganz auf den Empfang ankam, der ihr und dem Kind im Bayerischen Wald bereitet werden würde.
Evi schien keine bleibende Abneigung gegen Bahnfahrten davongetragen zu haben. Sie belegte ein leeres Abteil mit Beschlag, stürzte zum Fenster und beugte sich hinaus, um Tante Andrea zuzuwinken. Betti verstaute den Koffer und eine Reisetasche. Viel Gepäck hatten sie nicht bei sich, denn sie würden umsteigen müssen.
Betti biss sich auf die Lippen und wunderte sich über Evis Unbefangenheit. Jetzt, wo sie im Zug saß, kehrte die Erinnerung an das Unglück in vollem Umfang zurück. Sie glaubte, neuerlich das Bersten und Krachen und die Schreie der Verletzten zu vernehmen. Sie lehnte sich zurück und schloss die Augen.
»Was hast du, Betti?«, fragte Evi.
»Du bist ja ganz blass. Ist dir nicht gut?«
Betti riss sich zusammen. Evi war die Letzte, der sie ihre Angst eingestehen konnte. Zum Glück ging die Kleine von selbst über ihre Frage hinweg. »Freust du dich, dass du meinen Vati kennenlernen wirst?«, erkundigte sie sich und brachte Betti damit neuerdings in Verlegenheit. Mit einem Male kam ihr ihr Plan ungeheuerlich vor. Sah es nicht so aus, als ob sie sich einem wildfremden Menschen aufdrängen wollte? Sie hätte wenigstens vorher schreiben und sich erkundigen sollen, ob ihr Besuch überhaupt willkommen war. Doch nun war es zu spät dazu.
»Ja, ich freue mich«, sagte Betti ein wenig lahm zu Evi.
»Ich bin bloß müde. Gestern Abend war ich lange auf. Ich musste doch den Koffer packen und meine Bluse fertignähen …«
»Meine Bluse ist so schön. Vati wird staunen!« Evi kletterte auf Bettis Schoß und schlang ihre Arme um deren Hals. Dann plapperte sie munter drauflos und forderte Bettis ungeteilte Aufmerksamkeit.
Später stiegen andere Reisende zu, und Evi ergötzte sie mit Erzählungen von Peterles Streichen.
»Peterle ist wohl dein kleiner Bruder?«, fragte eine dicke ältere Dame.
»Nein«, erwiderte Evi und wurde nachdenklich. »Leider nicht.« Dann wandte sie sich an Betti und sagte: »Ich hätte so gern ein Brüderchen. Könntest du nicht schauen, dass ich eins bekomme?«
Die Anwesenden hielten Betti natürlich für Evis Mutter und lachten. Betti errötete und wechselte rasch das Thema.
Je näher sie ihrem Reiseziel kamen, desto aufgeregter wurde Evi. Betti erging es nicht anders. Im Stillen verwünschte sie, dass sie sich auf dieses Abenteuer eingelassen hatte. Was würde Herr Gleisner von ihr denken? Aber eigentlich war das gleichgültig. Die Hauptsache war, dass Evi wieder mit ihrem Vater zusammenkam. Was immer Erich Gleisner für ein Mensch sein mochte, Betti war noch immer überzeugt, dass er sich über den Besuch seiner Tochter freuen würde.
Endlich verließen sie den Zug.
»Müssen wir noch einmal umsteigen?«, fragte Evi.
»Nur mehr in ein Taxi«, erwiderte Betti und streckte sich. Sie war steif nach der langen Fahrt. Dann kramte sie in ihrer Handtasche nach dem Zettel, auf dem sie die Adresse Erich Gleisners notiert hatte.
Als Betti die Adresse dem einzigen Taxichauffeur, den sie vor dem Bahnhof entdecken konnte, nannte, kratzte dieser sich daraufhin am Kopf, überlegte eine Weile und zog schließlich einen Plan zurate.
»Das ist ziemlich entlegen – mitten im Wald«, stellte er fest. »Sind Sie sicher, dass Sie dorthin wollen?«
»Natürlich«, erwiderte Betti und stieg in das Taxi um.
Der Chauffeur zuckte mit den Schultern und fuhr los.
»Na, erinnerst du dich an die Gegend?«, fragte Betti die kleine Evi während der Fahrt.
»Ich weiß nicht«, entgegnete Evi ungewiss und starrte aus dem Fenster. »Es ist so lange her. Wenn wir nur schon bei Vati wären«, fügte sie sehnsüchtig hinzu.
Betti teilte diese Sehnsucht nicht. Sie wünschte nun beinahe, dass die Fahrt mit dem Taxi nie ein Ende nehmen würde. Doch dieser Wunsch war selbstverständlich unerfüllbar. Sie hatten schon vor einer Weile die letzten Häuser der Stadt hinter sich gelassen und fuhren nun durch den Wald. Die Fahrbahn war schmal. Rechts und links davon gab es nur Bäume und Unterholz zu sehen. Der einzige Beweis von Zivilisation war die Straße und die nebenher laufende Hochspannungsleitung.
»So, da sind wir. Das muss das Haus sein«, sagte der Chauffeur und hielt. Betti stieg aus und entlohnte den Fahrer. Auch Evi kletterte aus dem Wagen und klammerte sich an Bettis Hand. Der Chauffeur hatte den Koffer und die Reisetasche an den Rand der Fahrbahn gestellt, ohne dass Betti es wahrgenommen hatte. Sie stand wie verzaubert da. Das, was sie sah, glich einem Bild aus einem Märchenbuch. Auf einer kleinen grasbewachsenen Anhöhe stand, von hohen Buchen umrahmt, das Forsthaus. Es war ein altes Haus mit einem spitz zulaufenden Giebel, dunklen Holzverschalungen im Erdgeschoss und einem Balkon mit geschnitztem Gitter, der sich über den ganzen ersten Stock hinzog. Über der Haustür befand sich ein Hirschgeweih, an den Fenstern gab es Kästen, die mit rot leuchtenden Blumen bepflanzt waren.
Das Grundstück wurde durch einen Zaun mit einem Gartentor zur Straße hin abgegrenzt. Auf dieses Tor lief Evi zu. Betti löste sich aus ihrer Verzauberung und eilte dem Kind nach. Neben dem Tor war ein gelber Briefkasten angebracht, auf dem in hübschen Metalllettern der Name Haslinger stand.
Betti hatte schon die Hand zur Glocke erhoben, als ihr Blick auf das Schild fiel. »Sind wir hier richtig?«, fragte sie Evi und sah sich gleichzeitig nach dem Taxi um, das aber längst weggefahren war.
»Ja!«, rief Evi freudig erregt. »Jetzt erkenne ich es wieder. Hier wohnt mein Vati.«
Durch diese Auskunft beruhigt, drückte Betti auf die Klingel. Lautes Hundegebell erscholl, und von irgendwoher kam ein braungefleckter Spaniel zum Tor gestürzt, um die Draußenstehenden zu verbellen.
Evi wich ängstlich zurück, und Betti merkte an dieser Reaktion, dass ihr der Hund unbekannt war.
»Ruhig, Ulli, ruhig! Ich komme ja schon!« Ein mittelgroßer Mann trat aus dem Haus. Als er näher kam, merkte Betti, dass er nicht mehr jung war. Sie schätzte ihn auf ungefähr sechzig Jahre. Sollte das Evis Vater sein? Doch ein Blick auf Evi bewies ihr, dass der Mann auch dem Kind fremd war.
Inzwischen hatte der Mann das Tor erreicht und fragte mit erstaunter Stimme: »Wollen Sie zu mir? Was wünschen Sie?«
Bettis Mut sank. Zum Glück war Evi weniger schüchtern. Sie erklärte unverblümt: »Ich will zu meinem Vati.«
»Zu deinem Vati?«
»Ja«, auch Betti hatte nun ihre Sprache wiedergefunden. »Wir wollen zu Herrn Gleisner. Er wohnt doch hier?«, erkundigte sie sich ängstlich.
Der