Sophienlust Paket 4 – Familienroman. Patricia Vandenberg
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Evi merkte von alldem nichts. Sie war überglücklich, bei ihrem Vati sein zu dürfen, und da sie ihn so lange nicht mehr gesehen hatte, sprudelten die Erlebnisse, die sie in der Zwischenzeit gehabt hatte, in kunterbuntem Durcheinander aus ihrem Mund hervor.
Frau Haslinger bat Betti leise, Platz zu nehmen. Dann verließ sie den Raum.
Betti saß nun auf einem unbequemen Stuhl mit harter gerader Lehne und wünschte sich meilenweit fort. Sie kam sich so überflüssig vor, wusste aber nicht, ob sie weggehen oder bleiben sollte.
Gerade als sie aufstehen wollte, unterbrach Erich Gleisner den Redefluss seiner Tochter und sagte: »Sei einen Augenblick still. Du hast genug Zeit, mir alles der Reihe nach zu erzählen. Zuerst möchte ich deine Pflegemutter begrüßen.« Seine Stimme klang tief und angenehm, aber der Blick, den er Betti zuwarf, war alles andere als freundlich. »Ich freue mich über Ihren Besuch«, sagte er steif und wenig überzeugend. »Leider bin ich nicht in der Lage, aufzustehen und Ihnen die Hand zu geben.« Er deutete auf die Krücken, die neben seinem Fauteuil lehnten.
Betti fühlte sich äußerst unbehaglich. Sie suchte krampfhaft nach ein paar passenden Worten, aber es fielen ihr keine ein. So schwieg sie, kam sich aber lächerlich und töricht vor.
Evi benützte die eingetretene Stille, um unbekümmert mit ihrem Bericht fortzufahren. Betti hatte befürchtet, dass sie viel von ihrer Mutter sprechen und damit einen wunden Punkt bei ihrem Vater berühren würde, aber Evi erwähnte ihre Mutter und das Eisenbahnunglück nur kurz. Seit diesem schrecklichen Erlebnis, an das sie nicht mehr denken wollte, hatte sie so viel Schönes erlebt, dass sie ihrem Vati unbedingt davon berichten musste. So erzählte sie von den Kindern von Sophienlust, vom kleinen Peterle und vom Tierheim Waldi & Co.
Im Zimmer wurde es langsam dunkel, doch Evi merkte es nicht. Erst als Frau Haslinger hereinkam und das Licht anknipste, sah sie blinzelnd auf und gähnte herzhaft.
»Es ist schon spät«, sagte die Försterin. »Ich glaube, das Kind muss zu Bett gebracht werden.«
»Ja.« Betti stand auf, um Evi in ihr Zimmer zu führen.
»Nein, erst muss sie noch etwas essen. Ich werde gleich den Tisch decken«, sagte Frau Haslinger.
Aber Evi war inzwischen so schläfrig geworden, dass sie keinen Appetit mehr hatte. Es fielen ihr bereits die Augen zu. Gehorsam ließ sie sich von Betti aus dem Zimmer führen und zu Bett bringen.
Betti wäre am liebsten auch schon schlafen gegangen, doch da klopfte Frau Haslinger leise an die Tür und bat sie mit unterdrückter Stimme, zum Abendessen hinunterzukommen.
Betti war zwar hungrig, aber da sie beim Essen neuerlich mit Herrn Gleisner zusammentreffen musste, hätte sie lieber darauf verzichtet.
Die Mahlzeit verlief dann auch so ungemütlich, wie Betti befürchtet hatte. Frau Haslinger hatte sich mit dem Essen redlich bemüht und den Tisch liebevoll gedeckt, aber diese Mühe hätte sie sich sparen können. Betti litt unter dem Gefühl, sich fremden Menschen aufgedrängt zu haben, obwohl der Förster und seine Frau ihr immer wieder versicherten, wie sehr sie sich über ihren Besuch freuten.
Erich Gleisner schwieg beharrlich, sodass Herr Haslinger schließlich drängte: »Nun sag doch etwas, Erich. Du müsstest dich doch am meisten darüber freuen, dass Evi hier ist.«
Erich Gleisner stocherte lustlos in seinem Essen herum und erwiderte endlich: »O ja, über Evis Besuch freue ich mich sehr.«
Es kam Betti vor, als habe er das Wort Evi besonders betont, aber vielleicht war sie bloß empfindlich? Dass sie selbst Herrn Gleisner unsympathisch war, daran gab es für sie jedoch keinen Zweifel.
Auch Frau Haslinger schien das zu merken. Sie sagte schnell: »Ich finde es großartig von Betti, dass sie extra hierhergefahren ist, um Evi einen Gefallen zu erweisen.«
Erich Gleisner sah mit einem spöttischen Blick zu Betti hinüber. »Wollten Sie wirklich nur Evi einen Gefallen erweisen, oder war auch Neugier mit im Spiel?«, fragte er.
»Neugier?« Betti verstand ihn nicht.
»Möchten Sie noch einen Schluck Wein trinken?«, schaltete sich Herr Haslinger hastig ein.
Betti lehnte dankend ab und half Frau Haslinger den Tisch abzuräumen. Sie atmete auf, als sie den Wohnraum verlassen hatte, und bat die Försterin, das Geschirr abwaschen zu dürfen.
»Nein, das kann ich nicht zulassen. Sie sind doch unser Gast«, meinte die Försterin.
»Aber ich wasche gern ab. Ich tue es lieber, als …« Betti stockte, aber die Försterin erriet, was sie hatte sagen wollen.
»Na, dann wollen wir es uns in der Küche gemütlich machen«, schlug sie vor. »Sie dürfen sich Herrn Gleisners Benehmen nicht zu Herzen nehmen. Er kann seine Freude eben nicht so zeigen.«
»Freude? Er hat mir seine Ablehnung deutlich genug gezeigt. Dabei hatte ich wirklich keine böse Absicht. Evi hat mir leidgetan. Sie hat so oft von ihrem Vater gesprochen …«
»Das kann ich mir vorstellen«, versicherte Frau Haslinger.
»Ich wiederhole mich noch einmal, es war gut und richtig von Ihnen, dass Sie gekommen sind. Das Kind ist glücklich, und auch Erich hat sich über das Wiedersehen mit seiner Tochter gefreut. Das können Sie mir glauben.«
»Aber warum ist er so …, so …«
»Er hat viel Schweres durchgemacht. Ich habe ihn erst nach dem Unfall kennengelernt, aber mein Mann kannte ihn schon, als er noch ein Kind war. Deshalb hat er auch Erichs Stelle übernommen. Es sollte allerdings nur eine Übergangslösung sein. Fritz, mein Mann, könnte eigentlich schon seine Pension genießen, aber er wollte für Erich einspringen, bis dieser wieder völlig gesund ist. Aber jetzt … Nun, ich fürchte, Erich wird nie wieder fähig sein, seinen Posten auszufüllen«, sagte Frau Haslinger traurig.
»Wie ist es zu dem Unfall gekommen und was ist dabei eigentlich passiert?«, fragte Betti.
»Es war ein Jagdunfall. Ein Industrieller, der es schick fand, ab und zu ein Stück Wild abzuknallen, schoss trotz Zielfernrohr daneben und traf Erich. Das Hüftgelenk wurde beschädigt, sodass Erich jetzt nicht mehr gehen kann, sondern sich mühsam auf Krücken fortbewegen muss.«
»Schrecklich. Ja, ich verstehe, dass so etwas einen Mann verbittert«, sagte Betti nachdenklich.
»Wenn wenigstens seine Frau zu ihm gestanden hätte«, bemerkte die Försterin zornig. »Ich weiß, man soll einer Toten nichts Schlechtes nachsagen – und ich habe sie ja auch gar nicht gekannt. Sie war schon weg, als wir hier eintrafen.«
»Warum hat sie ihn verlassen?«, fragte Betti und schämte sich ein wenig ihrer Neugier.
Frau Haslinger gab jedoch bereitwillig Auskunft. »Vermutlich war es ihr lästig, mit einem kranken Mann zusammenzuleben.«
»Sie hat ihn erst nach dem Unfall verlassen?«, fragte Betti erschrocken.
»Ja, davon rede ich doch die ganze Zeit. Sie muss sehr egoistisch gewesen sein und hat Erich bestimmt nicht aufrichtig geliebt. Aber Männer sind ja so dumm. Ich fürchte, er trauert ihr noch