David Copperfield. Charles Dickens
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»Wie können Sie so zerstreut sein, Dick, wo Ihr Verstand so scharf ist wie die Lanzette eines Chirurgen. Jetzt sehen Sie hier den jungen David Copperfield, und die Frage, die ich Ihnen vorlege, ist, was soll ich mit ihm anfangen?«
»Was Sie mit ihm anfangen sollen«, fragte Mr. Dick verlegen und kratzte sich hinter den Ohren. »Anfangen sollen?«
»Ja«, sagte meine Tante mit einem ernsten Blick und den Zeigefinger in die Höhe haltend. »Ich brauche einen vernünftigen Rat.«
»Hm, wie wäre es«, sagte Mr. Dick nachdenklich und mich mit leerem Blick ansehend, »ich würde –« mein Anblick schien ihm plötzlich einen Gedanken einzuflößen – und er ergänzte rasch: »ich würde ihn waschen.«
»Janet«, sagte meine Tante und drehte sich mit einem stillen Triumph, den ich damals noch nicht verstand, um: »Mr. Dick hat immer recht. Heize das Bad.«
Obgleich ich das größte Interesse an dem Gespräch hatte, konnte ich mich doch nicht enthalten, während desselben meine Tante, Mr. Dick und Janet genau zu beobachten und mich im Zimmer umzusehen.
Meine Tante war eine große Dame mit strengen Zügen, aber durchaus nicht bös aussehend. Es lag eine Unbeugsamkeit in ihrem Gesicht, in ihrer Stimme, ihrem Anzug und in ihrer Haltung, dass ich mir den Eindruck erklären konnte, den sie auf ein so sanftes Geschöpf, wie meine Mutter gewesen, gemacht hatte. Aber ihre Züge schienen eher hübsch als hässlich, wenn auch hart und streng; besonders fiel mir ihr lebhaftes blitzendes Auge auf. Ihr Haar, schon ziemlich ergraut, war unter einer unter dem Kinn zugebundnen Art Nachtmütze in zwei gleiche Teile geteilt. Ihr Kleid, lavendelfarbig und äußerst sauber, war knapp geschnitten, als wünschte sie so wenig wie möglich von ihm behindert zu sein. Es schien mir eigentlich ein Reitkleid zu sein, von dem man die Schleppe abgeschnitten hatte. Sie trug an der Seite eine goldne Herrenuhr, nach Form und Größe zu schließen und der Kette und den Siegeln daran, um den Hals einen Leinenstreifen wie einen Hemdkragen und an den Handgelenken Dinger wie Manschetten.
Mr. Dick hatte graues Haar und ein blühendes Gesicht, wie bereits erwähnt. Den Kopf trug er sonderbar gebeugt, aber nicht wegen des Alters, und seine großen Augen standen weit hervor und hatten einen eigentümlichen wässerigen Glanz, was mich zusammen mit seinem zerstreuten Wesen, seiner Unterwürfigkeit gegen meine Tante und seiner kindischen Freude, wenn sie ihn lobte, auf den Gedanken brachte, er müsse ein wenig verrückt sein, obgleich ich mir dann nicht erklären konnte, wie er hierher kam. Er war wie ein schlichter Gentleman mit weitem grauem Morgenrock, Weste und weißen Hosen bekleidet, trug seine Uhr und sein Geld lose in der Tasche und klimperte damit, als ob er sehr stolz darauf wäre.
Janet, ein hübsches frisches Mädchen, etwa neunzehn oder zwanzig Jahre alt, schien ein wahres Muster von Nettigkeit zu sein. Später erfuhr ich, dass sie eine aus der Reihe der weiblichen Schützlinge war, die meine Tante nach und nach mit der Absicht in Dienst genommen, Männerfeindinnen aus ihnen zu machen, die aber am Schluss gewöhnlich Bäcker geheiratet hatten.
Das Zimmer sah ebenso sauber aus wie Janet und meine Tante. Wenn ich nur einen Augenblick daran denke, rieche ich wieder die Seeluft, vermischt mit dem Dufte der Blumen, sehe die altmodischen und glänzend polierten Möbel meiner Tante, ihren geweihten Tisch und Stuhl, den großen runden Schirm im Bogenfenster stehen, den mit Läufern bedeckten Teppich, die Katze, den Kesselständer, die zwei Kanarienvögel, die Punschbowle, gefüllt mit trocknen Rosenblättern, den hohen Schrank mit seinen Flaschen und Töpfen und wundervoll gegen alles abstechend mein staubiges Ich auf dem Sofa.
Janet war fortgegangen, um das Bad zu heizen, als zu meinem größten Schrecken meine Tante plötzlich ganz starr vor Entrüstung wurde und nach Luft schnappend aufschrie:
»Janet! Esel!«
Sofort kam Janet die Treppe heraufgesprungen, als ob das Haus in Flammen stünde, stürzte auf einen kleinen Rasenfleck vor dem Haus hinaus und verscheuchte zwei von Damen gerittene Esel, die gewagt hatten, ihre Hufe auf den Rasen zu setzen, während meine Tante ihr auf dem Fuß folgte, den Zaum eines dritten Esels, auf dem ein Kind saß, ergriff, das Tier umdrehte, es zur Seite zog und dem unglücklichen Jungen, der den Esel geführt und die heilige Stelle zu entweihen sich unterstanden hatte, eins hinter die Ohren gab. Bis heute weiß ich nicht, ob meine Tante ein Recht auf diesen Rasenflecken besaß, aber jedenfalls hatte sie es sich in den Kopf gesetzt, und das genügte ihr. Es war in ihren Augen eine große Untat, die nach beständiger Ahndung verlangte, wenn ein Esel diesen jungfräulichen Fleck betrat. Mochte sie in welcher Beschäftigung immer begriffen und die Unterhaltung noch so interessant sein, der Anblick eines Esels gab dem Gang ihrer Gedanken sofort eine andere Richtung und unverzüglich stürzte sie auf ihn los. Krüge voll Wasser und Töpfe standen an geheimen Plätzen bereit, um die Führer der Esel zu begießen, Stöcke lauerten hinter den Türen, Ausfälle wurden zu allen Stunden gemacht und ununterbrochen wütete der Krieg. Vielleicht war alles das eine angenehme Unterhaltung für die Jungen, und wahrscheinlich machte es den Klügern unter den Eseln, die die Sache durchschauten, in der ihnen eignen Hartnäckigkeit eine besondere Freude, gerade deshalb diesen Weg zu betreten.
Dreimal, ehe das Bad fertig war, wurde Lärm geschlagen und beim letzten und verzweifeltsten geriet meine Tante in ein Gefecht mit einem fünfzehnjährigen Burschen mit sandgelbem Haar, den sie mit dem Kopf an die Gartentür stoßen musste, ehe er zu begreifen schien, worum es sich handelte. Diese Unterbrechungen kamen mir umso lächerlicher vor, als sie mir gerade Fleischbrühe einflößte, – sie hatte sich offenbar eingeredet, ich stünde dicht vor dem Hungertode und dürfte anfangs nur in kleinen Quantitäten Nahrung zu mir nehmen. In Erwartung des Löffels hielt ich noch den Mund offen, da legte sie das Besteck auf den Teller, rief: »Janet! Esel!« und eilte hinaus zum Kampfe.
Das Bad war eine wahre Erquickung für mich. Das Schlafen im Freien hatte mir Gliederschmerzen gemacht, und ich fühlte mich so matt, dass ich kaum fünf Minuten hintereinander wach bleiben konnte. Als ich mich gebadet, zog ich, das heißt, sie zogen mir – nämlich meine Tante und Janet – ein Hemd und ein Paar Hosen Mr. Dicks an und wickelten mich in zwei oder drei große Schals. Ich sah wie ein Paket aus und es war mir schrecklich heiß. Da mich überdies ein Gefühl von Mattigkeit