Oliver Twist. Charles Dickens
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"Sie wurde gestern Abend auf Anordnung des Armenvorstehers hier eingeliefert", antwortete die alte Frau. "Man fand sie auf der Straße ohnmächtig; sie muss weit gelaufen sein, denn ihre Schuhe waren ganz zerrissen, jedoch, woher sie kam oder wohin sie wollte, weiß niemand."
Der Arzt beugte sich über die Verblichene und hob ihre linke Hand hoch.
"Ich sehe schon, es ist die alte Geschichte", sagte er kopfschüttelnd, "kein Trauring. Na! Gute Nacht!"
Er ging zu seinem Abendessen, und die alte Frau setzte sich auf einen Schemel in der Nähe des Kamins und begann das Kind zu kleiden.
In der Decke, die Oliver bisher umhüllt hatte, konnte man ihn ebenso gut für das Kind eines Edelmannes als für das eines Bettlers halten. Aber jetzt in dem alten verwaschenen Kinderzeug, das durch langjährige Benutzung gelb geworden war, trug er Zeichen und Abzeichen seiner Stellung, nämlich die eines Gemeindekindes, einer Waise des Armenhauses, eines zum Hungern bestimmten Lasttieres, das von allen verachtet und von niemand bemitleidet, durch die Welt geknufft und gepufft wird.
Oliver schrie laut und kräftig; hätte er wissen können, dass er eine Waise war und der zärtlichen Fürsorge von Kirchen- und Armenvorstehern ausgeliefert, so hätte er vielleicht noch lauter geschrien.
Zweites Kapitel: Handelt davon, wie Oliver Twist heranwuchs, erzogen und ernährt wurde
In den ersten acht oder zehn Monaten war Oliver das Opfer eines systematischen Betrugs und einer unausgesetzten Gaunerei. Er wurde nämlich aufgepäppelt. Die Armenhausbehörde meldete den ausgehungerten und elenden Zustand des Waisenkindes pflichtschuldigst an den Gemeindevorstand. Dieser forderte einen Bericht darüber, ob sich "in dem Hause" keine Frauensperson befände, die in der Lage sei, dem kleinen Oliver Twist die Nahrung zu reichen, deren er bedurfte. Die untertänige Antwort der Armenhausbehörde fiel verneinend aus, worauf der Gemeindevorstand den hochherzigen und menschenfreundlichen Entschluss fasste, Oliver in einem fünf Kilometer entfernten Filialarmenhaus unterzubringen. Dort wuchsen unter der mütterlichen Aufsicht einer älteren Frau zwanzig bis dreißig andere jugendliche Übertreter der Armengesetze auf, ohne von Kleidung und Nahrung allzu sehr belästigt zu werden. Die Matrone nahm die kleinen Verbrecher gegen eine Entschädigung von wöchentlich sieben und einem halben Pence für den Kopf auf, und damit lässt sich ein Kind recht gut ernähren. Der Betrag reicht sogar zu, den Magen zu überladen und das Kind krank zu machen. Die alte Dame war eine kluge und erfahrene Frau, sie wusste, was für Kinder – und noch mehr, was für sie selber gut war. Sie verwendete den größeren Teil des Kostgeldes zu ihrem eigenen Nutzen und setzte die heranwachsende Jugend auf noch kleinere Rationen, als von der Behörde beabsichtigt war.
Jedermann kennt die Geschichte eines praktischen Philosophen, der eine herrliche Theorie erfunden hatte, die ein Pferd befähigte, gänzlich ohne Nahrung zu leben. Der Versuch gelang so weit, dass er sein eigenes Pferd bis auf einen Strohhalm den Tag herunterbrachte und auch ohne Zweifel ein sehr mutiges, feuriges und gar nichts fressend des Tier aus ihm gemacht hätte, wenn es nicht vierundzwanzig Stunden vor dem Tage krepiert wäre, wo es sich zum ersten Male ausschließlich von der Luft ernähren sollte. Unglücklicherweise hatte das System der Frau, deren Fürsorge Oliver Twist anvertraut war, gewöhnlich einen ähnlichen Erfolg. Gerade wenn ein Kind so weit gekommen war, von dem kleinstmöglichen Teile der möglichst schwächsten Nahrung zu leben, so kam es acht-, bis neunmal in zehn Fällen vor, dass es an Hungertyphus erkrankte, oder sich verbrannte oder einen schweren Fall tat, lauter Zufälligkeiten, durch die das bedauernswerte kleine Wesen in eine andere Welt abgerufen und zu den Vätern versammelt wurde, die es in dieser nicht gekannt hatte.
Man kann nicht erwarten, dass diese Erziehungsmethode glänzende Ergebnisse zeitigte. Oliver Twist war an seinem neunten Geburtstage ein blasses, schmächtiges, im Wachstum zurückgebliebenes Kind. Aber Natur oder Vererbung hatte in seine Brust einen gesunden, kräftigen Geist gepflanzt, der auch, dank der spärlichen Diät der Anstalt hinreichend Raum hatte, sich auszudehnen. Vielleicht ist es nur diesem Umstande zuzuschreiben, dass er sich überhaupt seines neunten Geburtstages erfreuen durfte. Er feierte denselben in der erlesenen Gesellschaft zweier anderen jungen Herren im Kohlenkeller, wo sie nach einer tüchtigen Tracht Schläge eingesperrt worden waren, weil sie sich erdreistet hatten, hungrig zu sein. An diesem Tage wurde Frau Mann, die würdige Vorsteherin der Anstalt durch die unerwartete Erscheinung des Gemeindedieners, Herrn Bumble, in Schrecken gesetzt. Er bemühte sich gerade, die Gartentür zu öffnen.
"Herr du meine Güte! Sind Sie es, Herr Bumble?" rief Frau Mann, indem sie ihren Kopf aus dem Fenster steckte, anscheinend hocherfreut dem Kirchendiener zu.
"Susanne, hole rasch den Oliver und die beiden anderen Rangen aus dem Keller und wasche sie. – Ach, wie mich das freut, Herr Bumble. Freue mich wirklich, Sie mal wiederzusehen"
Herr Bumble war ein dicker und außerdem jähzornige Mann und anstatt die freundliche Begrüßung zu erwidern, gab er der Gartentür einen Stoß, wie ihn nur der Fuß eines Gemeindedieners zu geben imstande ist.
"Mein Gott", sagte Frau Mann hinauseilend – denn die drei Jungen waren inzwischen aus dem Keller geholt worden – "dass ich das vergessen konnte. Der lieben Kinder wegen hatte ich ja die Tür verriegelt. Treten Sie näher, Herr Bumble, bitte kommen Sie rein."
Obgleich diese Einladung mit einer Liebenswürdigkeit vorgebracht wurde, die sogar das Herz eines Kirchenältesten erweicht, hätte, besänftigte sie den Gemeindediener durchaus nicht.
"Ist es etwa ein geziemendes und höfliches Benehmen, Frau Mann", fragte Herr Bumble, "die Gemeindebeamten am Gartentor stehen zu lassen, wenn sie in Angelegenheiten, die die Gemeindewaisen betreffen, hierher kommen?'
"Glauben Sie mir, ich war gerade dabei, den lieben Kindern zu erzählen, dass Sie kämen", erwiderte Frau Mann unterwürfig.
Herr Bumble hatte eine hohe Meinung von seiner Beredsamkeit und seiner Wichtigkeit. Die eine hatte er entfaltet und die andere geltend gemacht. Er wurde dadurch milde gestimmt.
"Schon gut, Frau Mann", entgegnete er in sanfterem Tone, "ich will es Ihnen glauben. Gehen Sie nur voran, Frau Mann, ich komme dienstlich und habe Ihnen etwas auszurichten."
Frau Mann führte den Gemeindediener in ein kleines Zimmer, holte einen Stuhl herbei und nahm ihm dienstbeflissen den dreieckigen Hut und seinen Stock ab. Sie legte beides auf den Tisch vor ihm. Herr Bumble wischte sich den Schweiß von der Stirn und blickte wohlgefällig auf den dreieckigen Hut. Dann lächelte er. Tatsächlich, er lächelte. Gemeindediener sind auch nur Menschen, und Herr Bumble lächelte.
"Nehmen Sie mir nicht übel, was ich Ihnen jetzt sage", bemerkte Frau Mann mit bestrickender Liebenswürdigkeit, "aber Sie haben einen weiten Spaziergang gemacht, darf ich Ihnen mit einem Gläschen aufwerten, Herr Bumble?"
"Nicht einen Tropfen, nicht einen!" erwiderte Herr Bumble und wehrte mit seiner rechten Hand würdevoll, aber nicht unfreundlich ab.
"Sie dürfen's mir nicht abschlagen", sagte Frau Mann, der der Ton seiner Weigerung und die ihn begleitende Gebärde nicht entgangen war. "Nur ein kleines Gläschen mit ein wenig kaltem Wasser und 'nem Stückchen Zucker." Herr Bumble hustete.
"Nur einen Tropfen!" fuhr Frau Mann im überredenden Tone fort.
"Was ist es denn?" fragte der Gemeindediener.
"Nun, es ist etwas, von dem ich immer einen kleinen Vorrat haben muss, um es den lieben Kindern in den Kaffee gießen zu können, wenn sie nicht wohl sind", versetzte Frau Mann, indem sie einen