Oliver Twist. Charles Dickens
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"Den geben Sie den Kindern mit dem Kaffee, Frau Mann?" fragte er, dabei mit seinen Augen den interessanten Vorgang der Mischung verfolgend.
"Ja, der liebe Gott weiß es, ich tu's, so teuer er auch ist. Sie wissen ja, mein Herr, dass ich sie nicht vor meinen Augen leiden sehen könnte!'
"Nein", sagte Herr Bumble, "nein, das könnten Sie nicht. Ich weiß, dass Sie eine menschlich denkende Frau sind, Frau Mann" (hier setzte sie ihm das Glas hin), "ich werde bei passender Gelegenheit den Gemeindevorstand besonders darauf aufmerksam machen." (Er zog das Glas näher an sich.) "Sie fühlen wie eine Mutter" (er hob das Glas), "ich – mit Vergnügen trinke ich auf Ihre Gesundheit, Frau Mann", damit trank er das Glas zur Hälfte leer.
"Doch nun zu unserm Geschäft!" rief der Gemeindediener, indem er eine lederne Brieftasche herauszog. "Das mit der Nottaufe versehene Kind Oliver Twist ist heute neun Jahre alt geworden."
"Gott segne ihn!" fiel Frau Mann ein und rieb sich mit dem Schürzenzipfel ihr linkes Auge rot.
"Und trotz der angebotenen Belohnung von zehn Pfund, die nachher auf zwanzig erhöht wurde, trotz der äußersten – ich möchte fast sagen übernatürlichen – Anstrengungen seitens der Gemeinde sind wir nicht imstande gewesen, seinen Vater oder die Heimat, noch den Namen und den Stand seiner Mutter ausfindig zu machen."
"Wie kommt es aber, dass er überhaupt einen Namen hat?" fragte Frau Mann.
Der Gemeindediener warf sich in die Brust und entgegnete: "Den habe ich erfunden!"
"Sie, Herr Bumble?"
"Jawohl. Wir geben unsern Findlingen Namen nach dem Alphabet. Der letzte war ein S – ich taufte ihn Swubble. Dieser war ein T – ich benannte ihn Twist."
"Sie sind ja ein wahrer Gelehrter, Herr Bumble."
"Vielleicht", sagte der Gemeindediener geschmeichelt, "kann sein, Frau Mann. – Oliver ist nun zu alt für dieses Haus, der Vorstand hat beschlossen, ihn wieder zurückzunehmen. Und ich soll ihn abholen. Bringen Sie ihn mal her."
"Ich werde ihn sofort holen", sagte Frau Mann und verließ das Zimmer. Oliver war inzwischen von dem Schmutz, der sein Gesicht und seine Hände bedeckte, soweit gereinigt worden, als es durch eine einmalige Wäsche geschehen konnte. An der Hand seiner wohlwollenden Beschützerin betrat er nun das Zimmer.
"Mach einen Diener vor dem Herrn, Oliver", sagte Frau Mann.
Oliver machte eine tiefe Verbeugung sowohl vor Herrn Bumble auf dem Stuhl, als auch vor dem Dreispitz auf dem Tische.
"Willst du mit mir gehen, Oliver?" fragte Herr Bumble mit hoheitsvoller Stimme.
Oliver wollte gerade sagen, dass er gern mit jedem fortgehen würde, als er bemerkte, dass ihm Frau Mann, die hinter den Stuhl des Gemeindedieners getreten war, mit wütender Miene die Faust zeigte. Er verstand diese Zeichensprache.
"Wird sie auch mitgehen?" fragte der arme Junge.
"Nein, aber sie wird dich hin und wieder besuchen", sagte Herr Bumble.
Das war kein sonderlicher Trost für Oliver. Trotz seiner Jugend war er jedoch klug genug, sich so zu gehaben, als verließe er Frau Mann nur ungern. Es wurde ihm nicht schwer, Tränen ins Auge zu locken, da Hunger und kürzlich überstandene Misshandlungen recht geeignet sind, sie herbeizuführen. So weinte Oliver sehr natürlich. Frau Mann umarme ihn wohl tausendmal und gab ihm ein großes Butterbrot, damit er nicht allzu hungrig im Armenhaus ankäme. Unnötig zu sagen, dass ihm das Butterbrot lieber war als die tausend Umarmungen der Frau Mann. Mit einer kleinen braunen Tuchmütze auf dem Kopf verließ nun Oliver die armselige Stätte, wo nie ein freundliches Wort oder ein zärtlicher Blick das Dunkel seiner Kinderjahre erhellt hatte.
Herr Bumble holte mit weiten Schritten aus, und der kleine Junge trabte neben ihm her, wobei er alle fünf Minuten fragte, ob sie nicht bald "da" seien.
Oliver war noch keine Viertelstunde im Armenhause und kaum mit der Vertilgung eines zweiten Stückchen Brotes fertig, als Bumble ihm sagte, dass heute Abend eine Vorstandssitzung sei, und dass er unverzüglich vor dem Kollegium zu erscheinen habe.
Die Begriffe von Sitzung und Kollegium waren Oliver nicht besonders klar. Er wusste deshalb nicht, ob er bei dieser Nachricht lachen oder weinen sollte. Bumble führte ihn in ein großes weißgetünchtes Zimmer, wo acht bis zehn wohlbeleibte Herren um einen Tisch saßen. Oben am Tische machte sich auf einem Lehnstuhl, der etwas höher als die übrigen Stühle war, ein besonders wohlgenährter Herr mit einem sehr runden, roten Gesichte breit.
"Verbeuge dich vor den Vorstandsmitgliedern!" sagte Bumble, und Oliver tat es.
"Wie heißt du, Junge?" fragte der Mann im hohen Lehnstuhl.
Der Anblick so vieler Herren brachte Oliver so aus der Fassung, dass er zu zittern anfing. Er antwortete daher nur leise und schüchtern.
"Junge!" sagte der Vorsitzende, "du weißt doch, dass du eine Waise bist?"
"Was ist das?" fragte der arme Kerl.
"Du weißt doch, dass du keinen Vater und keine Mutter hast und dass du von der Gemeinde erzogen wirst, nicht wahr?"
"Jawohl, Herr", erwiderte Oliver, bitterlich weinend.
"Warum heulst du?" fragte ein Herr mit einer weißen Weste. In der Tat, der Grund, weshalb er weinte, war sehr schwer zu finden.
"Ich hoffe, du betest jeden Abend vorm Zubettgehen für die Leute, die dich aufziehen, wie es sich für einen Christen geziemt", fragte ein anderer Herr mit barscher Stimme.
"Ja, Herr", stotterte der Junge.
"Nun, wir haben dich hierherkommen lassen, damit du erzogen wirst und ein nützliches Gewerbe lernst", sagte der Vorsitzende.
"Du wirst daher morgen früh um sechs Uhr anfangen, Werg zu zupfen", fügte der Herr mit der weißen Weste hinzu.
Für die Verbindung dieser beiden Wohltaten machte Oliver auf einen Wink des Gemeindedieners eine tiefe Verbeugung und wurde dann schnell in einen großen Saal geführt, wo er sich auf einer harten Pritsche in den Schlaf weinte.
Armer Oliver! Er dachte nicht daran, als er so in einer glücklichen Selbstvergessenheit schlummernd dalag, dass jene Männer am selben Tage einen Entschluss gefasst hatten, der den größten Einfluss auf sein künftiges Geschick haben sollte. Und doch war es der Fall, wie wir in folgendem sehen werden.
Die Mitglieder des Gemeinderats waren sehr weise, einsichtsvolle, philosophische Männer. Als sie ihre Aufmerksamkeit dem Armenhaus zuwandten, fanden sie mit einem Male, was bisher noch kein gewöhnlicher Sterblicher entdeckt hatte, dass es den Armen darin zu gut gefiel. Es war in ihren Augen ein rechtes Vergnügungslokal für die besitzlosen Klassen, ein Wirtshaus, wo nichts bezahlt wurde jahrein, jahraus Frühstück, Mittagessen, Tee und Abendbrot auf öffentliche Kosten –, ein Elysium aus Backsteinen und Mörtel mit Spiel und Tanz, ohne jede Arbeit.
"Oho", sagten die Gemeinderäte, "das muss anders werden, und zwar sofort." Sie setzten daher als Richtlinie fest, dass die armen Leute die Wahl haben sollten (denn es war nicht ihre Absicht, jemand zu zwingen), in dem Hause langsam oder außer dem Hause schnell Hungers zu sterben. Zu diesem Zwecke schlossen sie mit den Wasserwerken einen Vertrag über die Lieferung einer unbegrenzten Menge Wasser und