Statist auf diplomatischer Bühne 1923-1945. Paul Schmidt
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Für solch eine rückschauende Arbeit war die Inselstadt Ratzeburg der geeignete Platz. Heinrich der Löwe, Ziethen, Bismarck, Moltke und die Hohenzollern sind hier durch alle Stürme der Zeiten noch bis in die Firmenschilder des Alltags lebendig geblieben, während die Geschichte der jüngsten Gegenwart durch den nur drei Kilometer entfernten Eisernen Vorhang und die bei Tag und Nacht an der stillen Stadt vorüberdröhnenden Flugzeuge der Luftbrücke eindrucksvoll in Erscheinung trat.
Die Abfassung des Buches war mir nach dem Kriege von vielen Deutschen und Ausländern wiederholt nahegelegt worden. Als ich aus der Nachkriegsdiskussion über die Ereignisse, mit denen ich in so enger Verbindung gestanden hatte, ersah, welch unvollständige und zum Teil irreführende Eindrücke die übriggebliebenen, nüchternen Akten vermittelten, entschloß ich mich, meine Erinnerungen über fast ein Vierteljahrhundert europäischer Geschichte niederzuschreiben.
Nur die persönliche Erfahrung gestattet eine lebendige Beurteilung der Geschehnisse, und ich habe mich daher in den folgenden Kapiteln bemüht, dieses unerläßliche, menschliche Element mit dem reinen Tatsachenmaterial zu verbinden, um dem Leser einen wirklichkeitsnahen Eindruck von den noch vielfach so stark umstrittenen Ereignissen zu geben, die ich in den meisten Fällen als einzig überlebender Zeuge aus allernächster Nähe miterlebt habe.
Ich habe mich darauf beschränkt, die Ereignisse wiederzugeben, an denen ich auf dem außenpolitischen Parkett selbst teilgenommen habe. Die internen Vorgänge, vor allem während des Hitlerregimes, gehen über den Rahmen dieses Buches hinaus, da ich als Statist auf der diplomatischen Bühne mit ihnen nicht in Berührung gekommen bin. Die auftretenden Personen erscheinen dadurch nur in der Beleuchtung, in der sie sich bei den außenpolitischen Verhandlungen zeigten.
Ich habe mich bei meiner Darstellung dieser nunmehr geschichtlichen Vorgänge von der Objektivität leiten lassen, die für einen Dolmetscher als dem Vermittler zwischen Gesprächspartnern verschiedener Nationalitäten und Anschauungen eine selbstverständliche Berufseigenschaft ist. In einem Punkt bin ich nicht neutral: In dem Kampf zwischen Fanatikern jeder Rasse und Nationalität und den Hommes de bonne volonté, den Menschen guten Willens, auf die ich bei meiner ereignisreichen Tätigkeit immer wieder gestoßen bin. Ich will mich als guter Deutscher mit diesem Buch voll und ganz auf die Seite der Hommes de bonne volonté stellen, weil ich aus allem, was ich erlebt habe, und besonders aus der Geschichte des Dritten Reiches, die Überzeugung gewann, daß die wahren Feinde der Menschheit die Fanatiker sind, in welchem Lager sie sich auch finden mögen.
Tegernsee, im Juli 1949.
EINLEITUNG
Weltgeschichte – zunächst ganz privat
„Erzherzog Franz Ferdinand in Sarajewo ermordet!“ – mit diesen markanten Worten trat die Weltgeschichte zum ersten Male an mich heran, als Ende Juni 1914 die Extrablätter auf den Straßen Berlins ausgerufen wurden. Ich ging damals noch zur Schule, hatte von Politik keine Ahnung und war in der Geschichte noch nicht weit über Karl V. hinausgelangt. Deshalb hatte ich auch in jenem Augenblick von der Bedeutung des Ereignisses und dem Wendepunkt, den es nicht nur in meinem eigenen Leben, sondern in der Geschichte Deutschlands und Europas, ja der ganzen Welt bedeuten sollte, nicht die geringste Ahnung.
„Erster Mobilmachungstag zweiter August“, rief einige Wochen später in einem kleinen märkischen Dorf, wo ich mich bei Verwandten aufhielt, der Dorfschulze den Bauern zu und kündete damit amtlich den Ausbruch des Ersten Weltkrieges an. Bald danach stand ich, der Fünfzehnjährige, als Hilfspolizist mit einer weißen Binde um den Arm und einem ungeladenen Gewehr über der Schulter unter einer Berliner Eisenbahnbrücke und spielte „Bahnschutz“. Im nächsten Jahr half ich, durch die Verteilung der ersten Lebensmittelkarten, das „Zeitalter der Rationierungen“ zu eröffnen, wie vielleicht spätere Historiker einmal unsere Zeit nennen werden. Wieder ein Jahr danach erarbeitete ich mir als Unterprimaner mein Notabitur im Hilfsdienst bei einer Munitionsfabrik, der „Bamag“, d. h. der Berlin-Anhaltischen Maschinenbau A. G. in der Huttenstraße.
Zwei Monate später wurde ich dann zum Militärdienst eingezogen, und meine „Heldenlaufbahn“ begann. Es war im Jahre 1917, und Berlin hatte bereits die ersten Lebensmittelunruhen hinter sich. Es brodelte unter der Oberfläche; wir Berliner Rekruten wurden deshalb zur Ausbildung in möglichst entfernte Gegenden des Reiches geschickt.
Ich kam in den Schwarzwald und wurde dort mit anderen Landsleuten, von denen die meisten noch nie in ihrem Leben ein höheres Gebirge als den Berliner Kreuzberg gesehen hatten, auf der Hornisgrinde und am Mummelsee zum Gebirgskrieger ausgebildet.
Eines Tages bekamen wir, statt der alten blauen, feldgraue Uniformen verpaßt, so daß wir wie richtige „Krieger“ aussahen, wenn man uns nicht allzu genau in die Milchgesichter blickte. Wir wurden … im Straßenkampf ausgebildet! Wir lernten, wie. man Menschenmassen sanft und energisch mit quer vorgehaltenem Gewehr zurückdrängt, wie man sich dieses Gewehr nicht von den roten Sozis entreißen läßt, wie man Straßen absperrt und Geschäfte schützt. Es war eine eigenartige Vorbereitung auf eine „Heldenlaufbahn“. Wir wurden in Mannheim eingesetzt und zwar zum Straßenabsperren gegen revoltierende, hungernde Menschenmassen. Zu Zwischenfallen kam es dabei nicht. Die Mannheimer Arbeiter verulkten uns höchstens wegen unseres jugendlichen Aussehens, begaben sich aber im übrigen auf Aufforderung unserer Offiziere in aller Ruhe auf den Nachhauseweg, so daß wir unsere „ordnungspolizeiliche“ Ausbildungstaktik sehr schnell wieder vergaßen.
Einige Tage später wurden wir dann in den richtigen Krieg geschickt und kamen gerade noch rechtzeitig, um an den großen Offensiven im Frühjahr 1918 teilzunehmen. Als Maschinengewehrschütze kämpfte ich meistens in der „ersten Welle“, wie es damals hieß, gegen Franzosen Engländer, Amerikaner und … Portugiesen, die an einer Frontstelle, welche von den Alliierten für ruhig gehalten wurde, den Hauptstoß der Märzoffensive von 1918 über sich ergehen lassen mußten.
Am 15. Juli 1918 erlebte ich dann zum ersten Male unmittelbar einen Wendepunkt der Geschichte. Er bildete das erste Glied in der Kette jener geschichtlichen Ereignisse, an denen ich in meiner späteren Laufbahn als Angehöriger des Auswärtigen Amtes genau so aus allernächster Nähe teilnahm wie hier als Gefreiter mit dem Maschinengewehr. An jenem Tage begann nämlich die Gegenoffensive von Foch, die das Schicksal der deutschen Armeen im Ersten Weltkrieg besiegelte.
Als die deutsche Offensive anlief und meine Kompanie auch diesmal wieder in der ersten Welle weit auseinandergezogen hinter dem Feuerschleier der Artillerie durch die Trichterfelder bei Reims vorwärtsstürmte, fiel uns sofort die unheimliche Stille auf der Gegenseite und das lautlose Zurückweichen der uns gegenüberliegenden Franzosen auf. Wir hatten deutlich das Gefühl, daß wir irgendwie ins Leere stießen. Das Ratsel sollte sich in wenigen Stunden aufklären, als Foch mit seiner Reservearmee überraschend zum Gegenstoß ansetzte und uns in dem kritischen Augenblick der eigenen Vorwärtsbewegung durch diesen zeitlich sehr gut überlegten Gegenschlag völlig in Verwirrung brachte.
Als einfacher Soldat wußte ich an jenem Morgen, als ich bei Reims in den Granatlöchern saß, nichts von der entscheidenden Tragweite des Augenblicks. Ich hätte mir nicht träumen lassen, daß ich danach immer wieder in ähnlicher Weise an dem wechselvollen Schicksal Deutschlands und Europas unmittelbar persönlich beteiligt sein würde. Ich sollte in späteren Jahren auf den diplomatischen und politischen Schlachtfeldern Europas den allmählichen Aufstieg Deutschlands bis zu seiner größten Machtentfaltung aus nächster Nähe miterleben und das Rad der Geschichte jene volle Drehung vollziehen sehen, die fast ein Vierteljahrhundert später, auch wieder bei Reims, die bedingungslose Kapitulation des Dritten Reiches zur Tatsache werden ließ.
Noch weniger ahnte ich als überzähliger Gefreiter,