Statist auf diplomatischer Bühne 1923-1945. Paul Schmidt
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So entwickelte sich schließlich jenes Gleichgewicht der beiderseitigen Interessen, das zum Vertrage führte, und das, wie die spätere Wirtschaftsentwicklung der beiden Länder zeigte, ein echtes Gleichgewicht war, wenn es auch zunächst sehr stark zugunsten Deutschlands zu wirken schien.
Wenn man die langen Warenlisten des Vertrages durchsah, in denen bei jedem einzelnen Artikel die Nummer des Zolltarifs und der Zollsatz angegeben wurden, dann konnte man erkennen, daß nunmehr wieder französischer Wein, französisches Frühgemüse und französische Textilien, Parfüms und andere Luxuswaren in Deutschland zum Verkauf kommen würden, während deutsche Maschinen, deutsche Feinmechanik und Optik und all die anderen deutschen Ausfuhrartikel wieder unter einigermaßen normalen Bedingungen in Frankreich abgesetzt werden konnten. Beim Durchblättern dieser Listen wurde mir klar, daß ich am Ende einer deutsch-französischen Entwicklung angelangt war, die vor Jahren mit einer ersten Wirtschaftsunterhaltung zwischen Stresemann und Clémentel im Hyde Park Hotel in London begann und nun hier in diesem Vertrag endete und zu ganz konkreten, für jeden einzelnen Deutschen und Franzosen persönlich spürbaren Ergebnissen geführt hatte.
Gleichzeitig gingen meine Gedanken zurück in den Reformationssaal nach Genf, zu dem eintönigen und auf den ersten Blick so sterilen Treiben der Wirtschaftssachverständigen. Auch diese Arbeit eines internationalen Gremiums fand hier in den Seiten des deutsch-französischen Handelsvertrages ihren konkreten, für den Mann auf der Straße greifbaren Niederschlag. Schrittweise war ich von Genf über Stockholm und Berlin hier in Paris von der trockenen Theorie bis zur lebensvollen Praxis des alltäglichen Güteraustausches durch die verschiedenen Phasen hindurchgegangen, in denen sich im Jahr der Wirtschaft 1927 ein Wendepunkt anzukündigen schien. Wie oft habe ich Ende 1949 und Anfang 1950, wenn ich aus Presse und Rundfunk von den ersten deutsch-französischen Wirtschaftsverhandlungen nach dem Zweiten Weltkriege hörte, die unter der Leitung eines mir von mancher früheren Wirtschaftsverhandlung her bekannten ehemaligen Kollegen stattfanden, an die Zeit zurückgedacht, die ich mit der Wirtschaftsdelegation von 1924 bis 1927 in Paris verbrachte. Die Geschichte schien sich zu wiederholen, auch hinsichtlich der letzten Schwierigkeiten, die sich noch kurz vor Vertragsabschluß im Januar 1950 zwischen Deutschland und Frankreich ergaben, insbesondere aus den Kreisen der deutschen Landwirtschaft.
In späteren Jahren bin ich nie wieder so intensiv mit den internationalen Wirtschaftsproblemen in Berührung gekommen. An die Stelle der trockenen Zahlen und Tatsachen, die auf den ersten Blick so nüchtern und undramatisch schienen, trat wieder die Politik mit ihren äußerlich viel sensationelleren Begleiterscheinungen. „Primat der Politik“, hieß es von Stresemann bis Hitler. Was ich im Jahre 1927 an mir vorüberziehen sah, erweckte in mir die ersten Zweifel an der Richtigkeit dieser für Politiker so naheliegenden Behauptung. Ich hatte auch in der Wirtschaft eine Dramatik entdeckt, die zwar weniger an der Oberfläche lag, deren Fernwirkungen aber um so nachhaltiger waren. Als man sich später von den Grundsätzen der Wirtschaftskonferenzen von 1927 immer mehr lossagte, wuchs das Elend in Europa. Die Massen der Arbeitslosen und der wirtschaftlich Benachteiligten gerieten in Bewegung, und erst durch sie erhielten extreme Strömungen ein Gewicht, das ihnen die Macht verlieh, Europa und die Welt zur Katastrophe zu treiben.
Wenn ich unter diesem Gesichtspunkt all die Jahre der politischen Konferenzen und Gespräche überschaue, die seit 1927 an mir vorübergezogen sind, erhebt sich immer wieder die zweifelnde Frage, ob auch unter den modernen Bedingungen noch die Politik die erste Rolle spielt oder ob nicht in zunehmendem Maße die Wirtschaft ihre Stelle als der letztlich entscheidende Faktor einnimmt. Schon damals hatte die Politik immer irgendwie mit wirtschaftlichen Dingen zusammengehangen, in London, in Thoiry und später im Haag. In wieviel stärkerem Maße dies heute der Fall ist, zeigt uns die jüngste Entwicklung mit Marshallplan und europäischer Wirtschaftsunion. Vor den rein politischen Fragen wird hier der Wirtschaft offensichtlich der Vorrang gegeben.
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