Statist auf diplomatischer Bühne 1923-1945. Paul Schmidt
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Ich erlebte hier, wie die allgemeinen Grundsätze, die von der Weltwirtschaftskonferenz aufgestellt waren und die ich mit so viel Skepsis betrachtet hatte, der Verwirklichung doch ein erhebliches Stück nähergerückt wurden. Die Weltwirtschaftskonferenz zeigte hier ihre ersten positiven Wirkungen.
Auch außerhalb der eigentlichen Konferenz war die Atmosphäre unter den Geschäftsleuten in Stockholm erheblich lebendiger und optimistischer als unter den Sachverständigen von Genf. Jeden Abend fanden in diesem oder jenem Hotel Veranstaltungen statt, auf denen alte Freundschaften erneuert und neue geschlossen wurden. Daneben kam es sicherlich auch zu manchem guten Geschäft, nicht nur zum Nutzen der Beteiligten und ihrer Länder, sondern auch im Interesse der Wiederherstellung jener größeren weltwirtschaftlichen Gemeinschaft, „auf die die technische Entwicklung des 19. und 20. Jahrhunderts hindrängt“, wie es der Industrieausschuß in Genf formuliert hatte.
Sehr begünstigt wurde diese positive Tätigkeit des Kongresses durch den Tagungsort. Die Hauptstadt Schwedens mit ihren soliden Häusern und ihren schönen Geschäften, mit dem Königsschloß und dem Reichstag und den Ausflugsmöglichkeiten an die See nach Saltsjoebaden und anderen landschaftlich herrlichen Orten bildete um die Zeit der Mitternachtssonne einen exquisiten Rahmen für ein Treffen der Geschäftsleute aus der ganzen Welt. Der Schlaf wurde dabei auf ein Minimum beschränkt, denn um Mitternacht konnte man auf den Straßen noch bequem die Zeitung lesen, und um 1 Uhr morgens war es bereits wieder heller Tag. So nahm ich am 2. Juli von dieser Veranstaltung einen erheblich hoffnungsvolleren Eindruck mit auf den Rückweg als von der Weltwirtschaftskonferenz in Genf.
Einen weiteren und vielleicht noch stärkeren Beweis für die neue Atmosphäre, welche die Genfer Konferenz in der Wirtschaft zu verbreiten begann, bildeten die deutsch-englischen Industriebesprechungen in Berlin, zu denen ich telegraphisch aus Stockholm beordert wurde. Am 5. und 6. Juli trafen sich Vertreter der Federation of British Industries und des Reichsverbandes der Deutschen Industrie im Hotel Esplanade. Es waren auf beiden Seiten große Namen vertreten. Lord Gainford, der Präsident des britischen Industrieverbandes, war persönlich anwesend. Auf deutscher Seite waren die bekanntesten Persönlichkeiten aus der Industrie an den Verhandlungen beteiligt: Sorge, Duisberg, Bücher, Deutsch, Silverberg und Springorum. Die Industriellen hielten sich nicht lange bei allgemeinen Dingen auf. Sie erklärten als Männer der Praxis, „es müsse denjenigen Gebieten der Vorrang gegeben werden, auf denen schon in naher Zeit greifbare Ergebnisse erzielt werden könnten“. Das war ein ganz anderer Ton als in Genf oder selbst in Stockholm. Hier sollte keine Zeit verlorengehen, und so wurde denn die Frage des Abbaus der Handelshemmnisse, in der Genf und Stockholm mit so großem Nachdruck für eine Neuorientierung eingetreten waren, sofort an dem Punkt in Angriff genommen, der unter den damaligen Umständen am nächsten lag. Das war die Beseitigung der Ein- und Ausfuhrverbote. Dabei hatten gerade die Industriellen praktisch ein gewichtiges Wort mitzureden, da ja meistens ihre Vertreter in den Parlamenten bisher für derartige Verbote eingetreten waren. Wenn sie jetzt eine neue Linie verfolgten, so war die Aussicht auf eine praktische Verwirklichung, d. h. auf eine tatsächliche Aufhebung dieser Hindernisse für den freien Warenaustausch, um so größer.
Auch über andere praktische Dinge, die auf den ersten Blick vielleicht unwichtig erscheinen mochten, die aber für die Praxis des Warenaustausches von großer Bedeutung waren, wurde gesprochen. Dabei handelte es sich um die Vereinfachung der Zollnomenklatur und den Ausbau der internationalen Handelsstatistik. Mit diesen Fragen war man bereits tief in den Alltagsbetrieb des Handelsverkehrs auf internationaler Grundlage eingedrungen. So zeigte sich auch hier in Berlin in den Fragen des alltäglichen Wirtschaftsverkehrs zwischen Deutschland und England, daß Genf im einzelnen seine Früchte zu tragen begann.
Noch viel eindringlicher erlebte ich die Nachwirkungen der Weltwirtschaftskonferenz auf der nächsten Etappe meiner Reise, in Paris, wo ich mitten in die Schlußrunden des Kampfes zwischen den beiden Delegationen um den deutsch-französischen Handelsvertrag hineinkam. In Frankreich hatte die Weltwirtschaftskonferenz eine bemerkenswerte Wirkung gehabt. Als ich Ende April zur Wirtschaftstagung nach Genf abgereist war, stand Frankreich im Begriff, sich einen ganz besonders überhöhten neuen Zolltarif zuzulegen. Industrie und Landwirtschaft im Verein mit den dazugehörigen politischen Parteien schienen sich verschworen zu haben, den französischen Markt um jeden Preis vor dem Eindringen ausländischer Waren zu schützen, auch wenn dabei der französische Export zu Schaden kommen würde. An diesem Protektionismus, der in jener Zeit Frankreich beherrschte, waren die Verhandlungen schon mehrfach fast gescheitert. Immer wieder hatten sie vertagt werden müssen, weil eine Einigung über die Zollsätze unmöglich schien.
Aus diesem Grunde hatten sich die Verhandlungen, die kurze Zeit nach der Londoner Konferenz im Jahre 1924 begannen, auch fast drei Jahre lang hingezogen. Von Zeit zu Zeit waren immer wieder kurzfristige, provisorische Vereinbarungen getroffen worden, um nicht durch einen vertraglosen Zustand die Wirtschaftsbeziehungen zwischen beiden Ländern völlig zu unterbrechen.
Für die jüngeren Mitglieder der Delegation war diese Verhandlungsweise eigentlich recht angenehm gewesen. Jedesmal, wenn sich die Delegationen wieder entzweit hatten – und das kam sehr oft vor –, reisten die Hauptdelegierten nach Berlin zurück, um neue Weisungen einzuholen. Der technische Stab aber mußte in Paris gelassen werden, damit nicht der Eindruck eines völligen Abbruchs entstand. So hatten wir denn oft tagelang Zeit, uns in Paris und seiner schönen Umgebung umzusehen. Wir lernten die Hauptstadt Frankreichs bei Tag und Nacht gründlich kennen, und jeder von uns hätte nach Abschluß der Verhandlungen einen ausgezeichneten Fremdenführer abgegeben. Dazu kam noch die französische Inflation, die uns Ausländer mit einem stabilen Markgehalt von Woche zu Woche wohlhabender werden ließ.
Nun aber gingen die Verhandlungen doch endlich ihrem Abschluß entgegen. Frankreich war auf der Weltwirtschaftskonferenz mit seinem Protektionismus in eine derartige Isolierung geraten, daß es die französische Regierung vorzog, eine Neuorientierung ihrer Zollpolitik vorzunehmen. Auch die Wirtschaftskreise sahen ein, daß sich Frankreich im Welthandel mit seinen Schutzzöllen mehr schaden als nützen würde; die Vertreter der französischen Industrie und Landwirtschaft hatten ja mit eigenen Augen in Genf den Ansturm der übrigen Länder gegen die französische Handelspolitik miterlebt und machten daher durch ihre Vertreter im Parlament einem gemäßigteren Kurs der Regierung keine Schwierigkeiten mehr.
Diese Mäßigung zeigte sich nun auch in den Handelsvertragsverhandlungen. Am Morgen des 17. August wurde im Arbeitszimmer des Handelsministers Bokanowsky zum letzten Male über den grundlegenden Handelsvertrag zwischen Deutschland und Frankreich im Pariser Handelsministerium gesprochen. Der Unterzeichnungsakt fand später im Amtszimmer von Briand am Quai d’Orsay statt. Der deutsche Delegationsführer, der spätere Staatssekretär Posse, und der deutsche Botschafter, von Hoesch, unterzeichneten für das Reich, während Briand und Bokanowsky ihre Unterschrift für Frankreich gaben. Es war ein Vertragswerk von 210 Druckseiten, in dem die Wirtschaftsbeziehungen bis in die kleinsten Einzelheiten genau geregelt wurden. Allein 170 Seiten waren ausgefüllt mit Warenbezeichnungen und Zollsätzen, die in sechs verschiedenen Listen aufgeführt waren. Das Abkommen hat außerordentlich viel zur Hebung der beiderseitigen Wirtschaftsbeziehungen beigetragen und ist bis zum Ausbruch des zweiten Weltkrieges ihre Grundlage geblieben. Es war der erste Vertrag seit 1870, den beide Länder über einzelne Warenpositionen miteinander abschlossen, und er wurde in den folgenden Jahren in internationalen Wirtschaftskreisen stets als ein Muster für die Auswirkung der neuen handelspolitischen Linie gepriesen, welche die Weltwirtschaftskonferenz in Genf festgelegt hatte.
Frankreich hatte eine Zeitlang versucht, die handelspolitischen Fragen, die sich aus den hohen Zöllen ergaben, durch privatwirtschaftliche Vereinbarungen, d. h. durch Kartelle, zu lösen. Nach französischer Ansicht waren die Eisenindustrie, die Chemie und die Elektrotechnik hierfür besonders geeignet. Ich hatte in Genf erlebt, auf welchen Widerstand diese Theorie gestoßen war und wie am Ende der Weltwirtschaftskonferenz