Uwe Johnson. Bernd Neumann
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Die Instruktion lautete, zusammengefasst, so: Du bist doch der Jugendfreund aus Güstrow. Du bist Org.-Leiter gewesen. Da weisst du ja Bescheid. Du meldest dich zu Wort. Du sprichst zunächst über den Kampf der »Jungen Gemeinde« gegen den Frieden, danach konkret über die drei evangelischen Banditen von der »Jungen Gemeinde«, die am vorigen Sonnabend einen Rekruten der Roten Armee mit einem Taschenmesser überfallen und schwer verletzt haben, in der Bahnhofstrasse von Güstrow.
Der Jugendfreund aus Güstrow bestritt das. Wenn so etwas da vorgekommen sei, fünfzig Meter von der Wache der Volkspolizei, dann wüsste man das in Güstrow. Ihm wurde bedeutet, die Zeit des Funktionärs sei zu schade für fruchtlose Diskussionen. Als er weiterhin sich wehrte gegen den Auftrag, bekam er gesagt: Das ist ein Befehl. (Begleitumstände, S. 64)
Das alles, samt den Vorwürfen über die angebliche Mißhandlung Jugendlicher in christlichen Heimen; und die behaupteten Überfälle der Christen auf Andersdenkende kehrt in der Babendererde wieder – in Gestalt der Auseinandersetzung des FDJ-Präsidiums mit Peter Beetz:
Dann stritten sie: Ob es die Regel sei dass in christlichen Heimen Körperbehinderte misshandelt wurden, aber sie blieben uneinig. Und das Präsidium sagte: Die Junge Gemeinde lasse sich von den Amerikanern bezahlen für Sabotage und Spionage, und als Peter Beetz das nicht glauben wollte, sagten sie: Neulich sei ein Funktionär der Freien Deutschen Jugend nachts in der Eisenbahnstrasse von Angehörigen der Jungen Gemeinde mit Messern überfallen worden, das sei von einem amerikanischen Offizier so bestellt gewesen, und Peter Beetz sagte: Es sei nicht wahr. (Babendererde, S. 143)
Auch Uwe Johnson hatte gesagt: »Es ist nicht wahr.« In den FDJ-Leitungsbeschlüssen der Universität Rostock von 1953–1959 steht auf Seite 22, leider ohne genaueres Datum, jener Beschluß verzeichnet, der den Studenten Johnson als Befehl erreichen wird:
Die Studentengemeinde betrachteten sie als eine Organisation, als eine Zusammenfassung von Mitgliedern, die gegen den Aufbau des Sozialismus und gegen die Regierung der Deutschen Demokratischen Republik auftreten. Die »Freunde« forderten, die Rädelsführer von der Universität zu entfernen und die Mitläufer von den verbrecherischen Machenschaften der Studentengemeinde [zu] überzeugen, um sie für unseren Verband [...] zu gewinnen.
Ein Beschluß, der auch für Johnson Dienstverpflichtungscharakter hatte. – Doch er verweigerte den Befehl. Führte vielmehr aus, was er selbst in den Begleitumständen dokumentiert hat:
Sodann stellte er seinen Auftrag dar, bis hin zum evangelischen Taschenmesser. Er erklärte sich für ausserstande, über irgend eine andere »Junge Gemeinde« zu reden als die ihm bekannte; das sei die in Güstrow. Im Gegensatz zu der Meinung des Vorredners sei das weder eine illegale noch überhaupt eine Organisation; ihr fehle eine Befehlsstruktur wie ein Mitgliedsbeitrag. Ihr Zeichen, das Kreuz auf dem Kreis der Erdkugel, diene lediglich der Erkennung, wie das Abzeichen für den Fünfjahresplan. [...] Von öffentlichen Überfällen sei in Güstrow nur der bekannt auf zwei Oberschüler, Angehörige der Jungen Gemeinde und mit eben dieser Begründung von der Schule verwiesen, in einer Vollversammlung. Zum Schluss kam der Jugendfreund aus Güstrow mit der Feststellung, die Hetze und die Schikanen gegen eine Religionsgemeinschaft konstituiere einen mehrfachen Bruch der Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik, ausgeführt durch die Regierung der Deutschen Demokratischen Republik: Artikel 9 gewährleiste die Freiheit der Meinungsäusserung, Artikel 41 die Glaubensfreiheit und ungestörte Ausübung der Religion, und so fort bis zum Artikel 45. Wenn das eine Verschwörung sei, so wolle er, gerade als einstiger Org.-Leiter, da austreten. Kein Beifall. (Begleitumstände, S. 65 f.)
Nach der Erinnerung anwesender Kommilitonen fiel die Abrechnung Johnsons wesentlich harscher und pointierter aus. Der Protestant Uwe Johnson, Schüler einer ehemals evangelisch-reformatorischen Pflanzschule, riskierte Kopf und Kragen. Selbstverständlich wird er auch gewußt haben, daß zu seinen ca. 150 Zuhörern im restlos besetzten abendlichen Hörsaal 10 der Rostocker Alma mater auch das bürgerliche »Waldgesicht« gehörte. Wir sehen nun Tonio Kröger als einen Protestanten vor uns. Als einen rednerischen Täter, den Überwinder des Hamlet-Komplexes. Ein Teil der Zuhörer, darunter die Delinquenten und der, dem das rhetorische Henkeramt zugedacht war, der Student aus Güstrow, saßen erhöht auf der den halben Saal umlaufenden Galerie in antik-erhabener Umgebung: Szenen aus dem Parthenon schmücken noch heute die Wände. Das Rednerpult, an das der lange Blonde treten sollte, muß auch damals direkt rechts neben der Eingangstür gestanden haben. Wer durch den Eingang kommt, sieht sich sofort mit dem gesamten Auditorium konfrontiert.
Die Atmosphäre war äußerst gespannt. Die Kommilitonin Christa Trenschel, ein Studienjahr über Uwe Johnson und selbst kein Mitglied der »Jungen Gemeinde«, sah auffallend viele fremde Gesichter im Saal und konstatierte das coram publico, was große Unruhe bewirkte und zu einer Rüge der Sitzungsleitung führte. Die Fremden wurden den Studenten daraufhin als die »Freunde von der Kreisleitung« vorgestellt. Angeklagt waren mehrere Studentinnen, u. a. Renate Fründt und Ilse Rahnenführer, die beide später als Germanistinnen in Halle bzw. Rostock arbeiten würden. Sie saßen, roten Kopfes und deutlich verängstigt, gut sichtbar auf der Galerie. Die Sitzungsleitung wiederum, man erinnert das Aula-Tribunal in Ingrid Babendererde, saß an einem langen Extratisch vor dem Auditorium. Zügig ging die Leitung zur Sache über. Der als Ankläger Vorgesehene, Uwe Johnson, schritt zum Rednerplatz. Begann, langsam und gleichmäßig, mit leiser Stimme und aus gebeugter Haltung heraus sehr konzentriert zu sprechen. Die Unterarme schauten aus der Jacke wie fremd hervor. Wenn er den Kopf bewegte, funkelte die Brille. Die gutturale Stimme füllte den Raum vom ersten Wort an. Uwe Johnson äußerte sich nicht nur über die Verfassung der »Demokratischen Republik«, sondern berichtete, er wird es aufgreifen im letzten Band der Jahrestage, zusätzlich über die Praxis des Geheimdienstes an den Schulen; weiterhin, daß man auch ihn schon gezwungen habe, Beurteilungen und »Tatsachen« zu liefern, die dann teilweise bei der strafrechtlichen Verurteilung von Mitschülern Verwendung gefunden hätten. Uwe Johnson wies auf die im Hörsaal anwesenden einzelnen FDJ-Größen. Referierte, was sie ihm abverlangt hatten: Er sei dazu aufgefordert worden, heute abend, so wörtlich, »ein Schwein zu schlachten«. Der bäuerliche Hintergrund dieser stalinistischen Chargen war noch intakt. Im Saal herrschte lautlose Stille.
Auch nachdem der »Jugendfreund« aus Güstrow sein Werk verrichtet hatte, erhoben sich keinerlei Proteste oder Gegendarstellungen der Angegriffenen. Die Mehrheit der Zuhörer hielt Johnson, so ein anderer Zeuge des damaligen Auftritts, entweder für einen Selbstmörder oder für einen Narren. Johnson setzte sich wieder. Die Apparatschiks fingen sich rasch. Die Verurteilung der Mitglieder der »Jungen Gemeinde« kam am Ende im Sinn der gewünschten Geschäftsordnung und ganz »demokratisch« zustande. Lediglich fünf Stimmen ergaben sich gegen ihren Ausschluß. Eine davon war die Uwe Johnsons. Seine unmittelbare Umgebung bis hin zu seiner bürgerlichen Freundin wagte ihm diesen Entschluß nicht nachzutun. Schweigend verließ der Rotblonde mit den zu kurzen Ärmeln den Hörsaal 10. Ein Schriftsteller auf dem Weg zum Thema seines ersten Romans. Den Studenten der Philosophischen Fakultät galt er nach seinem Protest als ein Stigmatisierter, fand sich zunehmend isoliert. Der Beifall, den der Güstrower nicht erhielt, er hat ihn dann seiner Romanfigur Ingrid Babendererde zugeschrieben. Nach deren Protestauftritt in der Aula heißt es:
Sie betrachtete ohne Verständnis die gleichmässig aufruckenden Rükken, überall flackerten die aufspringenden klatschenden Hände; unter ihr der Fussboden bebte gefährlich von dem unaufhörlichen Trampeln. Und Söten klatschte, und Dicken Bormann klatschte, und Pummelchen klatschte, und Eva Mau klatschte, und Itsche klaschte, und Hannes klatschte, und Marianne schlug ihre Hände aufeinander in einer lauten Art, und unablässig klingelte der Wecker.
Als Ingrid auf dem Flur war, schlug die Stille über ihr zusammen wie ein anderer Regen von Lärm. (Babendererde, S. 175)
Über die möglichen politischen Veränderungen, die sein Auftritt bewirken konnte, wird