Entstehung und Geschichte der Weimarer Republik. Arthur Rosenberg
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Ebenso sinnlos war das Auftreten Wilhelms II. gegen Rußland. Der Kaiser sparte zwar keine persönliche Liebenswürdigkeit gegen den Zaren. Aber wo Rußland außenpolitisch einen Erfolg anstrebte, fand es den deutschen Konkurrenten vor. In der Zeit, als Rußland alle seine Kräfte auf Nordchina konzentrierte, besetzte Deutschland Kiautschou und marschierte die Waldersee-Expedition nach Peking. Als sich Rußland dem Nahen Osten zuwandte, traf es die deutsche Konkurrenz in Persien, und die asiatische Türkei stand im Zeichen der deutschen Bagdad-Bahn. Und als Rußland wieder eine aktive Balkanpolitik einleitete, unterstützte Deutschland mit allen Kräften Österreich, ja darüber hinaus trat Deutschland mit seinen Militärmissionen als selbständiger Faktor in der Türkei auf. Bismarck hatte die Verstimmungen und Konflikte mit Rußland immer dadurch ausgleichen können, daß er niemals ein reales russisches Interesse schädigte. Wilhelm II. störte überall die russische Politik oder trat ihr offen entgegen.
Dabei lag Wilhelm II., Bülow und dem Geheimrat Holstein, der im Auswärtigen Amt die Fäden in der Hand hatte, nichts ferner, als mit Rußland oder Frankreich einen Krieg zu provozieren. Die drei Männer, die in so verhängnisvoller Weise die deutsche Außenpolitik bestimmten, wollten nur Deutschlands sogenannten »Platz an der Sonne« verteidigen. Moralisch hatte Deutschland ohne Zweifel dieselbe Berechtigung, sich in China, Marokko usw. zu betätigen wie die anderen Mächte, aber eine solche Konkurrenzpolitik Deutschlands gegen Frankreich und Rußland hatte doch nur dann einen Sinn, wenn Deutschland auf die englische Rückendeckung rechnen konnte. Andernfalls war es ein leichtfertiges Spiel, das mit der Verständigung Englands, Frankreichs und Rußlands gegen Deutschland enden mußte.
Dabei waren die realen Erfolge der Politik Wilhelm II. gering, weil der Kaiser immer dann nachgab, wenn er seine Ziele nur durch einen Krieg hätte verwirklichen können. Kiautschou blieb die einzige deutsche Erwerbung in China. Aus Marokko ist Deutschland – gegen eine sehr zweifelhafte Entschädigung in Zentralafrika – herausgegangen. In Persien wich Deutschland vor England und Rußland zurück. Trotz der deutschen Militärmission hat Wilhelm II. die Türkei weder im Tripolisnoch im Balkankrieg geschützt. Zum Bagdadbahnunternehmen ließ Deutschland fremde kapitalistische Beteiligungen zu. Aber die nachträglichen deutschen Zugeständnisse konnten den Schaden nicht wieder gutmachen, den die Aktionen Wilhelms II. in Frankreich und Rußland angerichtet hatten.
Die Niederlage Rußlands gegen Japan beseitigte die Gefahr, daß England in Asien von Rußland ausgeschaltet wurde. Auf der anderen Seite trat durch den Marokkokonflikt an Stelle des kolonialen Gegensatzes England-Frankreich der Gegensatz Deutschland-Frankreich. So bot sich für die englische Politik die Situation, um den deutschen Konkurrenten unschädlich zu machen. König Eduard VII. schuf die Entente. Englands Taktik war seitdem vollkommen klar. Es hatte zwar nicht die Absicht, von sich aus Deutschland anzugreifen. Aber England war fest entschlossen, sobald Rußland und Frankreich in einen Krieg mit Deutschland geraten würden, sich am Kriege gegen Deutschland zu beteiligen. In diesem Entschluß der englischen Politik liegt die eigentliche Wurzel des Weltkrieges. Denn wären nicht Rußland und Frankreich der Hilfe Englands unbedingt sicher gewesen, so hätte Rußland nie einen Angriff gegen Deutschland und Österreich gewagt. England war zwar an den Zweibund durch kein formelles Bündnis gebunden, aber es bestanden Erklärungen der englischen Regierung, die für den Ernstfall völlig ausreichten.
Diese Situation mußte in den letzten Jahren vor Beginn des Weltkrieges der deutschen Politik völlig klar sein. Der deutsche Botschafter Fürst Lichnowsky hat in seinen Berichten aus London darüber keinen Zweifel gelassen. In Berlin verkannte man aber den Ernst der Lage. Man glaubte, daß es möglich sei, durch Entgegenkommen in Einzelfragen die englische Regierung von ihrem Kriegswillen abzubringen. Am meisten war der Reichskanzler von Bethmann-Hollweg in solchen Illusionen über England befangen. Die englische Regierurig war durchaus bereit, mit Deutschland vorteilhafte Abkommen über Spezialfragen, afrikanische Kolonien, Bagdadbahn usw. abzuschließen. England hätte auch ein Marineabkommen mit Deutschland geschlossen, damit beide Staaten den Neubau ihrer Kriegsflotten einschränkten. Aber all das konnte in der entscheidenden Frage die Ansicht Englands nicht ändern.
Die englischen Staatsmänner wollten es auf keinen Fall zulassen, daß Deutschland in einem Kontinentalkrieg über Frankreich und Rußland Sieger blieb. Denn dann wäre Deutschland der Herr des europäischen Festlandes geworden und so mächtig, daß England in eine überaus gefährdete Lage gekommen wäre. Eine solche Entwicklung wollten die englischen Staatsmänner der beiden großen Parteien verhindern, und darum waren sie fest entschlossen, beim Ausbruch eines Kontinentalkrieges mit Frankreich und Rußland zusammenzugehen18. Man sieht, daß es bei diesen Erwägungen Englands gar nicht auf die Stärke der deutschen Flotte ankam. Die Gefahr für England bestand darin, daß Deutschland eines Tages die Küsten von Petersburg bis Brest beherrschen könnte, aber nicht darin, daß Deutschland ein paar Panzerschiffe mehr hatte. Vom englischen Standpunkt aus war das logisch gedacht, und von »Heuchelei« und »Treulosigkeit« ist dabei keine Spur. Es ist nicht Englands Schuld, daß Wilhelm II. und Bethmann-Hollweg die englische Politik nicht verstanden. Aber ebenso irrtümlich ist die Ansicht, daß der Weltkrieg nicht gekommen wäre, wenn Deutschland seinen Flottenbau eingeschränkt hätte. Freilich hat die Weigerung der deutschen Regierung, das Flottenabkommen mit England zu schließen, stimmungsmäßig stark auf die englische Bevölkerung gewirkt, und so wurde dem Londoner Auswärtigen Amt seine antideutsche Taktik erleichtert. Was folgte für eine einsichtige deutsche Politik aus dieser Grundauffassung Englands? Wenn Deutschland den Frieden erhalten wollte, mußte es jede Verletzung oder Schädigung Frankreichs und Rußlands vermeiden. Seitdem die unglückselige Marokkoangelegenheit aus der Welt geschafft war, gab es wenigstens keinen akuten Konfliktsstoff zwischen Deutschland und Frankreich. Aber zur selben Zeit ließ Deutschland sich in der Balkanpolitik in einen schweren Konflikt mit Rußland hineinmanövrieren. Die Bildung der Entente Frankreich-Rußland-England hatte die deutsche Politik in eine hoffnungslose Abhängigkeit von Österreich-Ungarn gedrängt. Bülow und Holstein hatten sich die Theorie zurechtgemacht, daß Deutschland untergehen müsse, wenn sein einziger ernsthafter Verbündeter Österreich-Ungarn einen Krieg verliere. Dieser Theorie schloß sich Wilhelm II. mit einigen Schwankungen und Bethmann-Hollweg aus vollem Herzen an. Man berief sich dabei auf Bismarck, aber man verstand ihn vollkommen falsch.
Zunächst hätte Bismarck sich nie in eine Lage hineinmanövrieren lassen, in der Deutschland von der Gnade der Wiener Staatsmänner abhängig war. Ferner hatte Bismarck das Bündnis mit Österreich niemals so ausgelegt, daß die deutsche Armee für jedes Balkanabenteuer Österreich zur Verfügung stehen müsse. Auch Bismarck hielt die Existenz Österreich-Ungarns für eine Notwendigkeit für das Deutsche Reich. Aber daraus folgte noch lange nicht, daß Deutschland unbedingt sich an einem russisch-österreichischen Krieg beteiligen mußte. Bismarck hat immer wieder auf das entschiedenste betont, daß Deutschland neutral bleiben würde, wenn Österreich einen solchen Krieg provozierte. In der Tat war Deutschland immer noch mächtig genug, um dann beim Friedenskongreß die Existenz Österreichs zu verteidigen. Wilhelm II. und seine Ratgeber legten dagegen den Dreibundvertrag so aus, daß die Wiener Politiker einfach die deutsche Armee unter ihre Aktiva einkalkulieren konnten.
Das zeigte sich verhängnisvoll in der bosnischen Annexionskrise. Der sehr kluge und energische Leiter der österreichischen Außenpolitik, Aehrenthal, nahm die jungtürkische Revolution zum Anlaß, um die Annexion der beiden türkischen Provinzen Bosnien und Herzegowina auszusprechen, die Österreich seit dem Berliner Kongreß besetzt hielt. Aehrenthal war formal gegenüber Rußland im Recht. Denn Rußland hatte schon in der Zeit des Berliner Kongresses in geheimen Abmachungen die beiden Provinzen Österreich überlassen und auf einen Einspruch gegen eine Annexion von Bosnien-Herzegowina verzichtet. Inzwischen war aber Serbien aus der Vormundschaft Österreichs in die Klientel Rußlands übergegangen. Das serbische Volk verlangte die nationale Einigung mit seinen Stammesbrüdern in Bosnien, und Rußland