Der Reiher. Giorgio Bassani

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Der Reiher - Giorgio  Bassani

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durch ein Grübchen, das wie ein Komma aussah, entstellt war; die ziegelrote Farbe des länglichen, unzufriedenen Gesichts, auf dem der Bartwuchs so schwarz war, daß er ins Bläuliche spielte. Wie kläglich und unsympathisch er sein Gesicht fand – wie lächerlich! Seine Mutter hatte zwar immer gemeint – und natürlich einen Vorzug darin gesehen –, daß es dem Gesicht des Exkönigs Umberto ähnelte. Möglich. Soviel war jedenfalls sicher: Wenn die sozialistisch-kommunistische Flut weiter anstieg (und von wem sollte sie wohl eingedämmt werden? Von De Gasperi? Sah der so aus?), dann würden alle Gutsbesitzer einer bestimmten Größenordnung, zu denen zwangsläufig auch sie, die Limentanis, mit einem Besitz wie der Montina von über vierhundert Hektar, gehörten, sehr bald abdanken müssen.

      Er begann sich einzuseifen und fing bei der Kinnspitze an. Und während seine Gesichtszüge allmählich im Seifenschaum verschwanden, empfand er wieder, noch stärker als kurz zuvor, Unbehagen, wenn er an den vor ihm liegenden Jagdtag dachte.

      Er allein hatte ihn sich auferlegt. Und warum? Was war der Zweck? Hätte er nicht besser daran getan, endlich einmal diese Idee der Jagd in der Tonne aufzugeben? Sogar sein Vetter Ulderico Cavaglieri, der doch in Codigoro wohnte, und das hieß, sozusagen nur einen Schritt von den Valli entfernt, und der im Schutz seiner stattlichen, patriarchalisch-katholischen Familie, die er im Lauf von fünfzehn Jahren um sich versammelt hatte, auf die Meinung der Kommunisten ebenso pfeifen könnte wie einst auf die der Faschisten der Republik von Salò oder der deutschen SS – nun, sogar er hatte es nichtsdestoweniger für zweckmäßig gehalten, mit der Jagd einstweilen noch zu warten. Ja, im Herbst 1938, nach dem Erlaß der Rassengesetze (Ulderico war damals vierzig Jahre alt gewesen, während er, Edgardo, heute fünfundvierzig war), hatte es Ulderico nicht einmal darauf ankommen lassen, daß man ihm den Waffenschein verweigerte! Er hatte einfach keine Verlängerung seiner Erlaubnis beantragt. Und 1945, nach der Befreiung, hatte er sich gehütet, den Fehler zu begehen und sich sogleich einen neuen Waffenschein ausstellen zu lassen.

      Er rasierte sich mit der gewohnten Sorgfalt. Dann – da es noch eine Weile dauern würde, bis sich die Wanne mit warmem Wasser gefüllt hatte, streifte er die Pyjamahose ab und setzte sich aufs Klo. Seit ein paar Jahren hatte er mit seiner Verdauung morgens Schwierigkeiten. Blieb sie aus – sei es, daß er am Abend zuvor zu reichlich gegessen hatte, sei es, daß er zu zeitig aufgestanden war –, war er den ganzen Tag über schlechtester Laune; es konnte sich sogar Herzklopfen einstellen. Wie er hätte voraussehen können, war dies ein widriger Morgen. Aber so konnte er unmöglich losfahren; er riskierte dabei, unterwegs halten zu müssen, womöglich ohne Gelegenheit, sich waschen zu können.

      Also harrte er aus, indes sich das Wasser mit Getöse in die Wanne ergoß und er den stetig steigenden Wasserspiegel in der Wanne nicht aus dem Auge verlor. Er dachte an die Jagd in den Valli – daran, wie sie vor dem Krieg gewesen war und wie sie vermutlich heute geworden war. Wenn vor dem Krieg ein Herr aus Ferrara am Sonntag in der Gegend von Codigoro oder Comacchio auf die Jagd ging, konnte er überall einer freundlichen Aufnahme und des allgemeinen Respekts sicher sein. Und darüber hinaus, was die praktischen Dinge, die Organisation, anging, so war alles zum besten bestellt und vorbereitet – es war deutlich, daß man seit Jahrhunderten an diese Jagdbesuche gewöhnt war –, kurz, es war dafür gesorgt, daß der Gast aus Ferrara sich ohne Schwierigkeiten überall bewegen, daß er sich stärken konnte und an Ort und Stelle alles fand, was er irgend brauchen mochte. Doch heutzutage? Ganz abgesehen davon, daß es schon ein Wagnis war, im Auto über Land zu fahren (genauso wie in den Jahren 1919 und 1920 war es vorgekommen, daß man einem Autofahrer die Windschutzscheibe mit einem Stein eingeworfen hatte, der von unbekannter Hand hinter einer Hecke hervorgeschleudert wurde), was konnte man, wenn man sich, ob mit oder ohne Doppelflinte, in jener Gegend zeigte, anderes erwarten als scheele Blicke, als Menschen, die einem die kalte Schulter zeigten oder gar frech und feindselig anstarrten? Die Zeiten des Lächelns, in denen man höflich den Hut zog und sich verbeugte, waren vorbei. Für alle vorbei: politisch oder rassisch Verfolgte des faschistischen Regimes nicht ausgenommen.

      Er konnte auch nicht umhin, wieder einmal – wie schon so oft seit einigen Monaten – an das böse Abenteuer zu denken, das ihm, ausgerechnet ihm, widerfahren war, als es ihm im vergangenen April in den Sinn gekommen war, sich in der Montina einmal selbst vom Fortgang der Planierungsarbeiten zu überzeugen.

      Es war alles ganz plötzlich geschehen, sozusagen ohne die geringste Vorwarnung.

      Er sah sich wieder am Grabenrand sitzen, in der endlosen Weite der Felder, umringt von mindestens dreißig Landarbeitern (fast alles Gesichter, die ihm seit vielen, vielen Jahren bekannt waren), die mit erhobener Hacke – bereit, sie ihm über den Schädel zu schlagen – von ihm die sofortige Änderung der Lohnverträge forderten. Natürlich hatte er zunächst einmal nachgegeben, und Galassi-Tarabini, sein Anwalt, den er gleich nach seiner Rückkehr in die Stadt konsultierte, hatte seine Taktik vollkommen gebilligt, jedoch im gleichen Atemzug den Rat erteilt, sich um das gegebene Versprechen nicht weiter zu kümmern, vielmehr die ihm widerfahrene Bedrohung bei den Carabinieri von Codigoro anzuzeigen. Daraufhin aber hatte er seit jenem Tag nicht mehr den Mut gehabt, sich auf der Montina sehen zu lassen (statt dessen hatte er von Zeit zu Zeit seinen Verwalter, Ragionier Prearo, geschickt, der mit Benazzi, dem Pächter, über die kleinen Beträge abrechnete, um die es sich da handelte); und da 1939 der gesamte Grundbesitz des verstorbenen Leone Limentani auf seine Schwiegertochter Nives überschrieben worden war – Pimpinati Nives, katholisch, arisch und damals im achten Monat –, mußten nunmehr Leones Erben in direkter Linie, sein Sohn Edgardo und seine Witwe, Erminia Calabresi, die gut vierhundert Hektar der Montina – wenn nicht gar das Haus in der Via Mentana in Ferrara, in dem sie schlecht und recht noch immer wohnten – definitiv als fremdes Eigentum betrachten.

      Außer mit Galassi-Tarabini und selbstverständlich mit Ragionier Prearo hatte er mit niemandem über den Zwischenfall auf der Montina gesprochen, weder mit seiner Mutter noch mit seiner Frau. Seine Mutter – nun, man brauchte nur zu sehen, wie ruhig sie war – hatte bisher nichts von alledem erfahren. Aber Nives? Ob sie nicht vielleicht durch Prearo, mit dem er sie letzthin so oft im Büro der Verwaltung im vertraulichen Gespräch sah, bereits ausführlich über den Zwischenfall unterrichtet war? Und was erst die Landbevölkerung betraf, von Codigoro und Umgebung bis mindestens Pomposa – vor allem war hier natürlich an das ländliche Proletariat zu denken –, so müßte es ja nicht mehr mit rechten Dingen zugehen, wenn sich die Gewerkschaft nicht sofort auf den Fall gestürzt und den Leuten damit gehörig eingeheizt hätte!

      Aber eben darum: Wenn es so stand, warum mußte er sich dann – so fragte er sich – irgendwelchen Gefahren aussetzen? War es wirklich der Mühe wert, sich weitere Unannehmlichkeiten zuzuziehen, vielleicht sogar physischer Art, nur um dem Vergnügen frönen zu können, ein paar Flintenschüsse abzufeuern?

      Was war denn nun wichtiger, die Jagd oder …

      Mißmutig erhob er sich. Er gab es auf, dort länger sitzen zu bleiben (»Es ist ja doch zwecklos«, brummte er vor sich hin). Er beugte sich über die Wanne, um die Hähne zuzudrehen.

      Das Badezimmer hatte sich inzwischen mit einem dichten, lauwarmen Nebel gefüllt.

      2

      Er stand vor der geschlossenen Tür, die Hand auf der Klinke, noch ohne sie hinunterzudrücken, und überlegte, ob er es schaffen würde,sich heimlich davonzustehlen.

      Von seiner Mutter und von seiner Frau hatte er sich gestern abend verabschiedet und gleich nach dem Essen das Speisezimmer verlassen, wo sie stumm vor dem Kamin mit den halbverglühten Scheiten sitzen blieben und strickten. Rory, sein Töchterchen, hatte er allerdings am Abend nicht mehr sehen können, da er erst um neun Uhr nach Hause gekommen war, als Rory schon seit mindestens einer Stunde schlief. Aber, wie dem auch sei, jetzt konnte er sich unmöglich noch länger aufhalten lassen. Wenn er, um Rory einen Kuß zu geben, sich auch von Nives noch einmal verabschieden mußte, die in dem Zimmer schlief, das zwischen seinem und dem Rorys lag und das eigentliche eheliche Schlafzimmer war

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