Der Reiher. Giorgio Bassani
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»Kommen Sie auf einen Kaffee herein?« fragte er leise.
Er kannte doch den Charakter dieses Mannes durch und durch: Er war rauh, gelegentlich sogar mürrisch, aber von einer Anhänglichkeit und Treue, die jede Probe bestanden hatten. Es war also nicht nur ganz klar – und ihm wurde weit ums Herz, so erleichtert fühlte er sich –, daß Romeo nicht den geringsten Groll gegen ihn hegte, sondern mehr noch: Aus dem unbestimmten Ausdruck von Vergnügen, der um seine Augen zuckte, entnahm er – mochte seine Miene auch beherrscht und gleichmütig wie je sein –, wie froh und zufrieden er insgeheim war, daß er nach so langen Jahren das erstemal wieder auf die Jagd ging.
Er kletterte aus dem Wagen.
»Ist er schon fertig?« fragte er.
Romeo nickte. Mit einer Bewegung des Kinns auf die beiden Jagdgewehre weisend, fragte er, ob er sie im Kofferraum unterbringen solle.
»Wenn Sie mir den Wagenschlüssel geben, packe ich Ihnen das alles in den Kofferraum.«
»Das ist nicht nötig«, antwortete er, bemüht, den kühlen Ton und die gemessene Haltung zu wahren, die ihre Beziehung charakterisierten. »Legen Sie lieber alles auf den Rücksitz. Auch das hier, bitte.«
Er entledigte sich seiner Patronentasche und hängte sie ihm mit dem Riemen über den Arm; dann ging er mit raschen Schritten auf den Lichtschein zu, der durch den Türspalt drang.
Die Wohnung der Manzolis bestand aus drei ineinandergehenden Räumen, die alle in einer Reihe lagen: am einen Ende die Küche mit dem Fenster zum Hof hinaus, am anderen das Schlafzimmer, das auf die Via Mentana ging; dazwischen ein sehr geräumiges Zimmer, das die beiden Alten, nachdem sich ihre Tochter Irma verheiratet hatte und nicht mehr bei ihnen wohnte, mit hochglanzpolierten Serienmöbeln vollgestellt hatten, ohne es praktisch je zu benutzen. Seit jenem Vorfall in der Montina im April war es immer dasselbe gewesen: Er brauchte nur den Fuß in die Wohnung des Hausmeisters zu setzen – zumal in die Küche, die so sauber und ordentlich, so hell und, nicht zuletzt, so gut durchwärmt war von den glühenden Herdplatten –, und mit einem Schlag hob sich seine Stimmung. So war es auch diesmal. Hier, so stellte er, plötzlich wieder guten Mutes, fest, konnte man es sich wohl sein lassen, hier war er wirklich und wahrhaftig zu Hause! Auf die Manzolis konnte er sich verlassen!
Er setzte sich an den Tisch und begann, langsam den kochendheißen Kaffee aus der für ihn reservierten henkellosen Schale zu schlürfen (seinem Tassenkopf, wie Romeo sie nannte). Imelde indessen, das spitze Gesicht halb verborgen in den Falten ihres schwarzen Kopftuchs, wie es die Bauernfrauen im Delta trugen, hantierte eifrig weiter.
Über den Rand seiner Kaffeeschale hinweg verfolgte er aufmerksam jede ihrer Bewegungen.
Weder sie noch Romeo konnten Nives leiden. Mehr oder weniger unverhüllt mißbilligten sie alles an ihr, und diese Mißbilligung und Ablehnung erstreckte sich auch auf Ragionier Prearo, die Köchin Elsa und sogar auf Rory, mit anderen Worten auf alles und jeden, der nach dem Jahre 1938 in das Haus in der Via Mentana Nummer zwei gekommen war. Wenn sie von Nives sprachen, nannten sie nie ihren Namen; sie bezeichneten sie ihm gegenüber regelmäßig als Ihre Frau, während die wahre, die einzige Herrin des Hauses die Signora Erminia, seine Mutter, blieb und Lilla, der dreijährige Zwergpudel, der seiner Mutter sogar im Bett Gesellschaft leisten durfte, das einzige Baby im Hause, das man nach Strich und Faden verwöhnen mußte. An Nives aber ließen sie nichts Gutes. Er brauchte nur auf einen Augenblick zu ihnen hereinzukommen, und schon begannen sie mit den üblichen Beschwerden.
Vor kurzem zum Beispiel hatten sie ihm von der Angewohnheit seiner Frau berichtet, von der Einrichtung der Sprechanlage keinen Gebrauch mehr zu machen, sobald er nicht im Hause war. Das bedeutete, daß aus kleinstem Anlaß sie oder Elsa an einem der Hoffenster erschienen und sich, was sie sich mitzuteilen hatten, mit einer Lautstärke zuschrien, daß es selbst auf dem Hof der großen Mietskaserne in der Via Mortara nicht lauter zugehen konnte … Und jetzt? fragte er sich und senkte die Lider, als könnte er dadurch leichter aus dem unendlichen Vorrat seiner Geduld schöpfen. Was würde er also jetzt über seine Frau zu hören bekommen? Sicher hatte Imelde etwas auf dem Herzen.
Er schlug die Augen wieder auf.
»Was gibt es denn?« fragte er.
Aber er hatte sich wieder geirrt; auch diesmal hatte er falsch vermutet. Imelde hatte rotgeweinte Augen und führte fortwährend das Taschentuch an ihre Nase. Aber kaum trat Romeo vom Hausflur aus in die Küche, als sie plötzlich begann, einen gewissen William laut zu verwünschen, diesen Tagedieb und Kommunisten, der zwar sein Diplom als Elektrotechniker gemacht, aber keine Lust zur Arbeit hatte und alles Geld im Bordell verjubelte. Er lebte mit seiner Frau praktisch auf ihre Kosten, auf Kosten ihrer armen alten Eltern!
Er wandte sich Romeo zu.
»Wer ist dieser William?« fragte er.
»Irmas Mann«, antwortete er lakonisch und beugte den Kopf, so daß das Licht auf sein silbernes Haar fiel.
Einen Augenblick verstand er nichts. Es war, als wolle sich ihm das Gedächtnis versagen, um so seine Ruhe zu verteidigen.
Aber dann kam die Erinnerung.
Richtig, der Mann, der die Tochter der beiden geheiratet hatte. Wie konnte er das nur vergessen haben? Es war ein junger Mann von etwa fünfundzwanzig Jahren, erinnerte er sich – schmächtig, schmutzigblond, von gewandter Ausdrucksweise und guten Manieren; es war noch nicht lange her, daß er ihn ziemlich häufig zwischen Hof und Hausflur herumlaufen sah und daß sich der junge Mann einmal sogar nicht nur erboten hatte, ihm das Auto zu waschen, sondern sich auch geweigert hatte, irgend etwas dafür anzunehmen. Kommunist? Das konnte sehr gut stimmen. Um auf diesen Verdacht zu kommen, brauchte man sich nur sein Gesicht mit den hageren, bleichen Wangen anzusehen, das wie verzehrt schien von einer Art Gier und weiß Gott welchem geheimen Groll. Und man brauchte ihm nur zuzuhören, wie er sich in seinem Radio-Italienisch ausdrückte, glatt und ungezwungen, gewiß, aber auch wenig vertrauenerweckend. Das erstaunliche aber war, daß gerade Irma, ein so sanftes, feines und anständiges Mädchen, das in der Nähschule der Schwestern der Via Borgo di Sotto erzogen worden war und das rot wurde, sobald jemand, ich sage nicht, das Wort an sie richtete, sondern ihr nur auf der Straße begegnete und sie grüßte – daß gerade sie sich von einem Menschen dieses Schlages hatte betören lassen.
Und jetzt war Irma im sechsten Monat, wie ihm Imelde erklärte, und trotzdem mußte sie ihrem Nichtsnutz von Mann das Geld für sein ausschweifendes Leben besorgen, indem sie von früh bis spät als Hausschneiderin arbeitete …
Obwohl er sich immer unbehaglicher fühlte, blieb er auf seinem Platz sitzen und konnte sich nicht zum Aufbruch entschließen. Er sah auf die Uhr: fünf Uhr fünfunddreißig. Ulderico hatte sich am Telefon sehr bestimmt ausgedrückt: Der Mann, den er ihm als Jagdbegleiter vermittelt hatte und der ihn im Boot von Lungari di Rottagrande bis zu seiner Tonne bringen sollte (ein gewisser Gavino, wenn er richtig verstanden hatte), würde ab sechs Uhr fünfzehn in Volano auf ihn warten, vor dem Tuffanelli-Haus. – Fünf Uhr fünfunddreißig. Es war ausgeschlossen, daß er die Verabredung um Viertel nach sechs einhalten konnte. Nicht vor halb, spätestens dreiviertel sieben würde er da sein. Zu schweigen davon, daß man, soweit er sich erinnern konnte, vom Tuffanelli-Haus bis Lungari di Rottagrande wenigstens zu einem Drittel um die Valle Nuova herumfahren mußte, was noch eine gute halbe Stunde mehr bedeutete. Kurz