Der Reiher. Giorgio Bassani

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Der Reiher - Giorgio  Bassani

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Voraussetzung, daß er unverzüglich aufbrach.

      Er blickte wieder auf die Uhr, um sich selbst zur Eile anzutreiben und die Kraft zum Aufbruch zu finden. Umsonst. Eine unsägliche Trägheit, die stärker war als jede Willensanstrengung, hielt ihn auf dem strohgeflochtenen Küchenstuhl, als sei er an ihn festgebunden. Wenn er doch, allem zum Trotz, hier in der behaglichen Wärme der Hausmeisterwohnung bis zum Abend bleiben dürfte, ohne daß es jemand im Hause oder überhaupt jemand wußte! Dafür hätte er alles gegeben.

      Er hob den Kopf und sah Imelde an.

      »Aber nun erklären Sie mir doch einmal«, sagte er, »warum Ihr Schwiegersohn nicht arbeiten will.«

      Imelde zuckte die Achseln. »Was weiß ich«, sagte sie. Nur etwas wisse sie genau, fuhr sie fort, daß ihr Schwiegersohn den ganzen Tag im Bett liege, und wenn ihre Tochter es sich etwa herausnehmen sollte, ihm deshalb Vorwürfe zu machen, er imstande wäre, sie zu prügeln, dieser Spitzbube von einem Kommunisten!

      Dies sei die Wahrheit, beteuerte sie. Dafür bürgten ihnen allein die Gesichter der beiden, von kaum zurückgehaltener Wut verzerrt das seine, und erst recht das Gesicht ihrer Tochter mit den Augen der Frau, die zum Opfer bestimmt ist – und damit vielleicht obendrein insgeheim einverstanden ist.

      Verwirrt machte er Anstalten aufzustehen.

      »Wenn er nicht arbeitet«, gab er zu bedenken, »ist der Grund vielleicht, daß er keine Arbeit findet.«

      »Ach was«, mischte sich Romeo ein und schüttelte den Kopf. »Er hat einfach keine Lust, etwas zu tun.«

      »Aber warum lassen Sie dann nicht Ihre Tochter –« und damit wandte er sich an Imelde, »wieder zu Ihnen kommen?«

      Imelde seufzte. Sie habe es ihrer Tochter unzählige Male vorgeschlagen, sagte sie. Aber Irma sei hart, härter als Stein. Sie wollte nicht einmal davon reden hören.

      »Sie ist verliebt«, schloß sie und verzog die dünnen Lippen zu einer Grimasse der Verachtung.

      Verliebt, selbstverständlich – wie er übrigens bereits vorher verstanden hatte. Und jetzt war auch die Küche der Manzolis plötzlich unbewohnbar für ihn geworden, auch sie ein Ort, den er zu räumen hatte. Und das sofort.

      In dem Schweigen, das den letzten Worten Imeldes folgte (vom Hausflur drang durch die Mauern nur gedämpft das Brummen des Motors seiner Aprilia), blickte er wieder auf die Uhr. Fünf Uhr zweiundfünfzig.

      »Na, dann wollen wir mal«, sagte er, umklammerte mit beiden Händen die Tischkante, richtete sich auf und machte die ersten Schritte. Und als Imelde ihm nachkam und ihn anflehte, doch irgend etwas für ihre Irma zu tun (wenn er vielleicht ihren Schwiegersohn einmal zu sich bestellte und ein Wort mit ihm redete – wer weiß, ob der Unglücksmensch dann nicht doch zur Einsicht kam und sein Leben änderte?), antwortete er nur mit einem mal sehen, das, wie er selbst am besten wußte, überhaupt nichts bedeutete.

      Diesen Kerl sollte er zu sich bestellen, fragte er sich, während er auf den Hausflur trat und auf seinen Wagen zuging, und ein Wort mit ihm reden? Wenn er sich vorstellte, er sollte sich mit dem jungen Elektriker mit dem totenblassen Gesicht unterhalten, überkam ihn eine Art Widerwille. Ein Widerwille, in den sich Furcht mischte.

      Er setzte sich ans Steuer, schaltete die Scheinwerfer ein. Mit einer winkenden Bewegung der Hand den respektvollen Gruß Romeos erwidernd, der das Manöver Schritt für Schritt bis auf die Straße hinaus verfolgt hatte und ihn nun, das dünne Licht der Einfahrt im Rücken, vom Rand des Bürgersteigs her stumm ansah, wechselte er den Gang und fuhr los.

      4

      Er konnte es kaum erwarten, Codigoro hinter sich zu lassen. Während der ganzen Fahrt von der sogenannten Prospettiva, dem Triumphbogen auf dem Corso Giovecca bis zum Stadtrand von Codigoro hatte er die Augen fast nur auf die Straße vor sich gerichtet gehabt. In Volano wartete ja bereits der Mann mit dem Boot, also mußte er sich beeilen. Aber davon abgesehen, war es so, daß er erst, wenn er über Codigoro und Pomposa hinausgekommen wäre und wenn sich im ungenauen Licht der Dämmerung nach und nach die verlassene Landschaft der Niederung abzeichnete, nur unterbrochen von ausgedehnten Flächen scheinbar stehender Gewässer – scheinbar, denn in Wirklichkeit standen sie mit dem Meer in Verbindung –, daß er erst dann sich wohl zu fühlen begänne und wieder aufatmete.

      Aber gerade als er die Peripherie von Codigoro erreicht hatte und im Begriff stand, nach etwa hundert Metern in die glatte Umgehungsstraße einzubiegen, zwang ihn plötzlich ein jäher Schmerz in der Gürtelgegend, dem eine Sekunde zuvor ein leichtes Herzklopfen vorangegangen war, sich über das Steuerrad zu beugen.

      »Ein Glück, daß es jetzt kommt«, brummte er vor sich hin, während er von unten mit zusammengekniffenen Augen durch die Windschutzscheibe auf die beiden Schornsteine der Zuckerfabrik Eridania sah und auf den nicht weit davon entfernten Schornstein der Pumpwerke des Consorzio Bonifiche.

      Er kannte sich. Höchstens zehn Minuten würde er aushalten können, länger nicht. Würden sie genügen?

      Im Licht der ersten, in weiten Abständen aufeinanderfolgenden Straßenlaternen, die im Wind heftig über dem ländlichen Kopfsteinpflaster schaukelten, blickte er auf die Uhr. Sechs Uhr vierzig. Um diese Zeit würden die beiden Cafés an der Piazza gewiß die Jalousien schon aufgezogen haben. Um so mehr ein Grund, zunächst auf die Weiterfahrt nach Volano zu verzichten und lieber hier, in Codigoro, haltzumachen. Wenn er es erst einmal geschafft hatte, bis zur Piazza zu kommen, dann war er gerettet.

      Geradeaus fahrend, erreichte er in wenigen Augenblicken das Zentrum und die Piazza. Nirgends ein Licht – er sah es sofort, in seiner Erwartung enttäuscht, gewiß, und doch absurderweise zugleich mit einer Spur von Erleichterung – weder in den beiden gegenüberliegenden Cafés auf der rechten Seite noch in dem zehnstöckigen Gebäude des Nationalen Versicherungsinstituts, der I.N.A., auf der anderen Seite, in dem Ulderico mit seiner Familie wohnte, noch in irgendeinem der anderen großen und kleinen Häuser an der Piazza. Alles geschlossen, alles dunkel. Nirgends eine Menschenseele.

      Er fuhr auf die linke Seite des Platzes, um dort, vor dem großen Gebäude der früheren Casa del Fascio, aus der heute eine Kaserne der Carabinieri geworden war, zu parken. Er stellte den Motor ab, schaltete die Scheinwerfer aus, stieg aus und schloß in aller Ruhe die Wagentür ab. Codigoro. Die Piazza von Codigoro. Seit rund zehn Jahren, seit dem Jahr 1938, war er nicht mehr zu so früher Stunde hier gewesen. Aber einen so menschenleeren Platz hatte er, soweit er sich erinnern konnte, noch nie gesehen. Was hatte wohl eine solche Verlassenheit bewirkt? War es der kommunistische Terror, fragte er sich mit einem spöttischen Grinsen. Oder einfach Weihnachten?

      Es war nicht kalt; und vom Wind war zumindest in dieser Ecke so gut wie nichts mehr zu merken. Seltsam – auch die Leibschmerzen hatten aufgehört. Aus dem Schatten des Laubengangs vor dem Versicherungsgebäude kam ein Hund, ein Pointer, nach seinem Gang zu urteilen. Er sah, wie er ins Freie kam und zur Mitte des Platzes hinlief (ja, es war ein alter Vorstehhund), wo er vor dem Denkmal für die Gefallenen des Ersten Weltkriegs haltmachte, gründlich am Sockel schnüffelte, bevor er das Bein hob, um dann in langsamem Trab nach rechts hin, in einer Gasse, zu verschwinden. – Und wenn er es bei Bellagamba versuchte, überlegte er, nun wieder allein auf dem Platz. Möglich, daß auch der Bosco Elìceo noch nicht geöffnet hatte, zugegeben. Andererseits aber konnte er sich schlimmstenfalls an die Glocke hängen, da es ja immerhin auch ein Hotel war (wenn er auch persönlich dort noch nie übernachtet hatte; aber er hatte des öfteren gehört, daß es oben Zimmer für Gäste gab).

      Er öffnete den Kofferraum, entnahm ihm eine graue Astrachanmütze (ein altes Stück, das er schon als junger

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