e-tot. Uwe Post
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Fühlt sich an wie in einem anderen Leben, als wäre er ein neuer Mensch, hier und jetzt mit einer Lebenserwartung von knapp 10.000 Jahren.
Leos Haustür erkennt ihn, öffnet sich mit einem warmen Grußton, drin wartet das Plätschern des Aquariums, in dem Dorie und Nemo schwimmen, ja, genau die, an die du denkst. Sie können sogar sprechen, aber im Moment sind sie auf mute, Leo will seine Ruhe. Er geht zum Kühlschrank, nimmt sich eine Dose Bier, dann geht er zum Drogenschrank und holt sich eine Libelle. Das Vieh summt und schimmert in allen Farben, ein so schöner Anblick, da möchtest du heulen.
Aber Tote heulen nicht. Wozu auch? 10.000 Jahre! Okay, 9999 und ein paar Kaputte.
Leo schluckt die Libelle runter. Ein Gefühl wie Flugzeuge im Bauch. Sie lenken ab. Lenken ab von der Angst. Von der Angst um die eigene Existenz. Nur noch 9999 Jahre, und Leo wird gelöscht. Dann ist alles vorbei. Für immer. Was sind schon 9999 Jahre? Ein Lidschlag der Weltgeschichte. Ein lächerlicher Moment, verglichen mit den zweihundert Millionen Jahren, die die Sonne braucht, um einmal ums Schwarze Loch im Zentrum der Milchstraße zu kreisen.
Nein, ich fange jetzt nicht mit den Dinosauriern an. Die hatten jedenfalls mehr Zeit als Leo. Okay, nicht jedes einzelne Individuum, aber … wer hat nicht alles den Untergang der Menschheit vorhergesagt! Abgesehen von den Zeugen Jehovas. Hundert Jahre, fünfzig Jahre? Diese Schwarzseher hatten ja keine Ahnung. Jetzt leben wir ewig, bloß hat auch die Ewigkeit leider ein allzu frühes Ende. Wie lang dauert denn die Ewigkeit der Götter genau? Weiß doch keiner genau, niemand wird es je herausfinden. Leben eigentlich Dinos im Paradies? Ach nee, nach ihnen war ja noch die Sintflut.
Leo grinst, schließt genüsslich die Augen, während die Libelle ihre Vibrationen in seinen ganzen e-toten Körper schickt. Hier zuckt ein kleiner Finger, da der Bauchnabel – dass der das kann! – und nicht zuletzt … Du weißt schon.
Als die Vibrationen nachlassen, geht Leo in seinem Haus spazieren. Es ist riesig, es hat einen Park, einen Teich, einen Patio, drei Ecken zum Grillen. Boah, letzte Woche, mit den Kumpels, da brannten alle drei Grills und die Steaks waren der Hammer!
Im Wohnzimmer stützt sich Leo auf die Stuhllehne, schaut auf den Wandbildschirm, der gerade Werbung für einen neuen Arznei-Shop für E-Tote zeigt.
»Zeig mir den Shop«, sagt Leo, und das Haus gehorcht wortlos. Sofort verwandelt sich die Wand in eine Glastür, deren rechter Flügel einladend aufschwingt.
Leo tritt ein und süßliche Düfte und Musik heißen ihn willkommen. Vielleicht ein chinesischer Shop. Das ist gut, die haben laxere Kontrollen, die EU überwacht hier die Inhaltsstoffe nicht. Spaßbremsen!
Neben einem Regal voller bunter Bonbons steht eine lächelnde Chinesin in einem traditionell gemusterten roten Kleid – natürlich ein Bot, aber was soll’s, sie soll ja bloß was verkaufen.
»Heute Marken-Antidepressiva gratis, Sie zahlen nur die Versandkosten!«, säuselt die Chinesin mit deutlich hörbarem Akzent.
»Steuerfrei, hm?«
»Gut, dass uns das egal sein kann, nicht wahr?«, grinst die Chinesin.
»Ich bin natürlich nicht depressiv«, sagt Leo.
»Das macht nichts, unsere hochwertigen Medikamente wirken trotzdem!«, sagt die Verkäuferin. »Garantiert! Garantiert! Garantiert! Garantiert! Garan…«
»Schon gut. Haben Sie Arcanum Premium Verum Extra?«
»Selbstverständlich! Selbstverstän…«
»Ich nehme eine Packung.«
Die Chinesin hüpft vor Freude, vor ihr erscheint in einer bunten Sternchenwolke eine Packung mit einem weißbärtigen Zauberer darauf. Sie fängt die Schachtel auf, als sie vollständig materialisiert ist und anfängt, der Schwerkraft zu gehorchen, und reicht sie Leo.
»Die Versandkosten wurden soeben von Ihrem Guthaben abgebucht! Natürlich völlig anonym und …«
»Und was?« Leo will die Schachtel entgegennehmen, aber die Chinesin lässt sie nicht los. Der Bot ist mitten in der Bewegung erstarrt, zuckt ab und zu und kiekst noch einmal »und!«.
Dann löst sich die Chinesin in Luft auf. Zugleich steht Leo wieder vor seiner Wand in seinem Wohnzimmer, und der Bildschirm zeigt den lapidaren Schriftzug »Verbindung abgebrochen«.
Enttäuscht starrt Leo seine leere Hand an. Er kann nur hoffen, dass sie ihm nichts dafür abgebucht haben. Vergeudung kann er sich wirklich nicht leisten. Auch wenn er Gold kotzt – sein Guthaben ist begrenzt.
Und es muss noch 9999 Jahre reichen.
Tutorial für E-Tod-Newbies: Geld und Guthaben
Leider haben Verstorbene wie Sie keinen Zugriff auf gewöhnliche Bankkonten. Solche Einlagen sind Ihren Erben zugefallen. Sicher haben Sie vor Ihrem Ableben Ihr gesamtes Kapital in Kryptowährung umgewandelt, denn dieses Konto ist mit Ihrem persönlichen Passwort gesichert, das nur Sie kennen und niemand im Reallife. Alle Dienstleistungen von e-tot.de und unseren Partnern können gebührenfrei in LifeCoins bezahlt werden, der Umtausch in US-Dollar oder Euro ist jedoch zum jeweils aktuell gültigen Wechselkurs ebenfalls möglich. Für Verluste jeglicher Art ist e-tot.de nicht verantwortlich, alle Angaben ohne Gewähr.
ELISABETH1
»Voller Hoffnung« – man kann das goldgefasste Schild am Eingangstor des Geländes nur als blanken Hohn auffassen. Denn in dem grauen Betonkomplex in einem vergessenen Industriegebiet außerhalb von Kassel residiert ein Hospiz.
Ein Übergang zwischen Diesseits und Jenseits, der Anfang vom Ende; ein Ort, den nur Pflegekräfte, Bestattungsunternehmer und gelegentliche Besucher lebendig wieder verlassen. Noch nicht ganz der Styx, aber sicher so nah dran, dass man ihn in einer stillen Nacht leise plätschern hören kann.
Wer hier auf sein Ende wartet, kann nur hoffen, dass er keine Schmerzen verspürt und der Tod nicht mitten während einer spannenden Fußballübertragung eintritt.
Wenn gerade kein Sport läuft, sitzen oder liegen die Patienten vor ihren Konsolen, um ihre Scans zu optimieren, denn die meisten möchten im E-Tod sie selbst sein und nicht bloß blasse Kopien. Rührige Praktikanten verschiedener Dienstleister unterstützen die zumeist älteren Herrschaften bei der Bedienung der Geräte – ein Service, der zumindest bei seriösen Anbietern im Preis inbegriffen ist.
So gilt für die meisten hier: zum Vordereingang rein, durch die Glasfaserleitung wieder raus.
In Zimmer 213 lebt Elisabeth.
Noch.
Sie ist 97, die Metastasen drücken auf die Organe und Gelenke, laufen kann sie längst nicht mehr.
»Meine