Ellenbogenfreiheit. Daniel C. Dennett

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Ellenbogenfreiheit - Daniel C. Dennett eva taschenbuch

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– abgesehen von der Vernunft selbst –, und die Heilige Schrift besitzt für die in Frage stehenden Themen nicht mehr Relevanz als Homers Odyssee. Beide Debatten betreffen zwar exakt dieselbe Frage – die Realität des freien Willens –, doch der Kontrast auf der Ebene der Methoden zwischen damals und heute ist sehr stark. Luther und Erasmus schwingen ihre ausgewählten biblischen Passagen, aber keiner von beiden kommt je auf die Idee, zu argumentieren, dass einige dieser Passagen schlicht falsch sein könnten; immerhin handelt es sich um die Bibel, so dass alles in ihr Enthaltene einfach für wahr gehalten werden muss. Der einzige Ausweg besteht darin, alternative Deutungen für diejenigen Passagen zu finden, die der eigenen Position Probleme bereiten. Die Auslegung einer Sammlung von Stellen zu einem Thema mag uns heute als interessante Übung erscheinen, aber es fällt schwer, sie als eigenständige Suche nach der Wahrheit über dieses Thema ernst zu nehmen, verglichen etwa mit einer Metaanalyse einer Reihe von empirischen Studien zu einem Thema, die eventuelle Vorurteile oder andere Defizite in dieser Forschungsliteratur aufdecken kann. Die meisten der heutigen Argumente für oder wider die Willensfreiheit, die sich auf Experimente berufen, in denen die Gehirne von Versuchspersonen auf die eine oder andere Weise untersucht werden, oder auf Studien, die statistische Muster im menschlichen Verhalten analysieren, standen Erasmus und Luther einfach nicht zur Verfügung. Nichtsdestotrotz wimmelt es von taktischen und rhetorischen Gemeinsamkeiten in diesen beiden Debatten. Beispielsweise betrachte ich, analog zu Erasmus’ Einwänden gegen Luthers krude Fehldeutungen der Bibelstellen, die Argumente der Wissenschaftler für den illusorischen Charakter der Willensfreiheit als grob vereinfachend, philosophisch naiv und letztlich unberechtigt angesichts der angeführten wissenschaftlichen Belege. Sowohl Erasmus als auch ich selbst benutzen einfache Gedankenexperimente – die ich Intuitionspumpen nenne –, um begriffliche Probleme in den von uns kritisierten Positionen aufzudecken.2 Manche dieser Wissenschaftler meinen, ihre angeblichen Entdeckungen würden etablierte repressive Ideen über den Haufen werfen und die Menschheit von der Tyrannei überholter Autoritäten befreien, so wie es auch Luther glaubte. Das weist Erasmus und mir die weniger ergreifende Rolle des Reformers zu, der einen faden Kompromiss verteidigt, der vieles von derjenigen Tradition erhalten möchte, die die Opposition umwälzen will. Diese Ähnlichkeiten sind aufschlussreich und etwas unbequem für mich, wie ich erklären werde, aber sie verblassen neben der festen Überzeugung, die Erasmus und ich teilen: Wir sind beide der Ansicht, dass die Lehrmeinung, der freie Wille sei eine Illusion, aller Wahrscheinlichkeit nach tiefgreifende, bedauerliche soziale Konsequenzen nach sich zieht, wenn sie nicht konsequent widerlegt wird.

      Für mich bringt dies eine neue Herausforderung mit sich: Erasmus lag offenbar falsch mit seiner Vorhersage, dass in Luthers Position Unheil lauere. Werden sich meine Befürchtungen nicht als ebenso schwarzseherisch erweisen? Ich denke nicht, da unsere technologische Welt es uns erlaubt, uns Möglichkeiten auszudenken – und ernst zu nehmen –, die von keinem Angehörigen der Welt der Renaissance von Luther und Erasmus ernsthaft hätten in Erwägung gezogen werden können. Die Wissenschaft hat sich als viel eindrucksvollere Autorität erwiesen, als es die Bibel je sein könnte!

      Eines Tages sagte eine brillante Neurochirurgin zu ihrem Patienten, dem sie gerade in ihrem Hochglanz-Hightech-OP etwas implantiert hatte:

      „Das Gerät, das ich Ihnen gerade implantiert habe, kontrolliert nicht nur Ihre Zwangsstörung; es kontrolliert alle Ihre Entscheidungen, dank unseres Hauptkontrollsystems, das per Funkkontakt mit Ihrem Mikrochip 24 Stunden am Tag kommuniziert. Mit anderen Worten, ich habe Ihren bewussten Willen ausgeschaltet; Ihr Gefühl, einen freien Willen zu haben, wird fortan eine Illusion sein.“

      Tatsächlich hatte sie nichts dergleichen getan; es war lediglich eine Lüge, die sie ihm erzählte, um zu sehen, was passieren würde. Es funktionierte; der arme Geselle ging hinaus in die Welt, davon überzeugt, kein verantwortlicher Akteur, sondern bloß eine Marionette zu sein, und sein Verhalten begann dies zu belegen: Er wurde verantwortungslos, aggressiv, nachlässig, ließ seinen schlimmsten Launen freien Lauf, bis er gefasst und vor Gericht gestellt wurde. In seiner eigenen Verteidigung beteuerte er leidenschaftlich seine fehlende Verantwortlichkeit aufgrund des Implantats in seinem Gehirn: „Meine Neurochirurgin hat mich darüber informiert, dass sie von nun an all meine Gedanken kontrolliert.“ Die Neurochirurgin gab im Zeugenstand zu, diese Dinge gesagt zu haben: „Aber ich habe ihn nur ein bisschen durcheinanderbringen wollen – ein Schabernack, das ist alles. Ich habe nie gedacht, dass er mir glauben würde!“

      „Die Schlussfolgerung, die die Menschen draußen, außerhalb der Laborwände, ziehen, lautet: Das ist doch eine abgekartete Sache! Wir sind alle verkabelt! Das – und: Beschuldigen Sie nicht mich! Ich bin falsch verkabelt!“

      Falsch verkabelt? Wie wäre es dann, richtig verkabelt zu sein – oder haben die Wissenschaftler „herausgefunden“, dass in Sachen moralische Verantwortung keiner richtig verkabelt ist oder sein könnte?

      Ich glaube, Erasmus hätte dieses Gedankenexperiment gefallen, da es auf so dramatische Weise sein eigenes Hauptanliegen illustriert: „Es gibt gewisse Dinge derart, daß es, auch wenn sie wahr wären und gewußt werden könnten, dennoch nicht förderlich wäre, sie gemeinen Ohren preiszugeben.“ Er erläutert:

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