Ellenbogenfreiheit. Daniel C. Dennett
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„Die Menschheit täuscht sich zum Glück über den freien Willen, und dies scheint eine Voraussetzung zivilisierter Moralität und persönlicher Werte zu sein […] Wir müssen der Tatsache ins Auge sehen, dass es grundlegende Überzeugungen gibt, die aus moralischen Gründen nicht aufgegeben werden sollten, obwohl sie einander zerstören könnten oder sogar teilweise auf inkohärenten Konzeptionen beruhen. Zumindest bei der Mehrzahl der Menschen bedürfen diese Überzeugungen potenziell der motivierten Mediation und einer Abschottung durch Illusion, die von Wunschdenken bis hin zur Selbsttäuschung reicht.“
Der diesen Vorschlägen innewohnende Paternalismus ist auf atemberaubende Weise herablassend: Wir Erkennende können mit der Wahrheit umgehen, aber „die Mehrzahl der Menschen“ muss mit einer noblen Lüge eingelullt werden. Miles zitiert John Horgan, ehemals Redakteur beim Scientific American, aus einem Aufsatz auf der sehr einflussreichen Webseite Edge.org: „Die Wissenschaft hat zunehmend klargemacht (mir zumindest), dass der freie Wille eine Illusion ist. Aber er ist – noch mehr als Gott – eine prächtige und absolut notwendige Illusion.“ Doch anscheinend nicht absolut notwendig für Horgan.
Erasmus ist dieser Falle entkommen. Er stellt sich nie explizit der Frage, ob er Heuchelei befürworten würde, um die lebenserhaltende Illusion der Willensfreiheit aufrechtzuerhalten, da er argumentiert, dass der freie Wille keine Illusion sei. Die Willensfreiheit sei etwas Reales, und Erasmus kann das anhand seiner geschickten Interpretationen der Heiligen Schrift demonstrieren. Immerhin ist das das angekündigte Ziel seines Essays.
Aber trotz all seiner Cleverness – oder vielleicht gerade wegen all seiner Cleverness – erscheint mir das Ergebnis für unseren modernen Blick (zumindest für meinen) wie ein Paradebeispiel für einen „Spindoktor“ bei der Arbeit. (Der Verkehr auf dieser fünfhundert Jahre alten Brücke verläuft in beide Richtungen; als mich die anachronistische Überzeugung einmal überkommen hatte, dass Erasmus einer der Gründerväter der Spindoktor- Gilde war, konnte ich diesen Eindruck beim Lesen seines Textes nicht mehr ablegen.) Man bedenke, dass Luther und Erasmus darin übereinstimmen, dass die Bibel die einzige zugängliche Autorität darstellt; was kann Erasmus also sonst tun, außer diese Autorität, so gut er kann, nach brauchbaren Leckerbissen zu durchforsten, die seine These, die zu verteidigen er genötigt ist, stützen? Die Details sind interessant, aber bei den meisten handelt es sich um ausgeklügelte theologische Schachzüge, die für die heutige Diskussion kaum relevant sind. Meine Favoriten sind Erasmus’ rhetorische Fragen, wie zum Beispiel „Was aber haben die zahlreichen Prüfungen der Gebote für einen Sinn, wenn es niemandem in irgendeiner Hinsicht möglich ist, in seiner Hand zu bewahren, was geboten wurde?“,11 und Analogien:
„Hier hört man wieder das Wort ‚vorlegen‘, man hört das Wort ‚wählen‘, man hört das Wort ‚sich abwenden‘, die alle unpassend gesagt würden, wenn der Wille des Menschen nicht frei zum Guten wäre, sondern nur zum Bösen. Sonst wäre es genau so, wie wenn jemand einem Menschen, der so gefesselt ist, daß er seinen Arm nur nach links ausstrecken kann, sagte: Siehe, du hast zur Rechten besten Wein, du hast zur Linken Gift, strecke die Hand aus, nach welcher Seite du willst.“12
Luthers (Fehl-)Interpretationen der Bibelstellen erklärt er mit demselben Schwung weg, wobei er an den gesunden Menschenverstand des Lesers appelliert, aber am Ende auch ein wenig zu viel von seinem Ziel preisgibt:
„Warum, wird man sagen, wird dem freien Willen etwas zugestanden? Damit es etwas gibt, was den Gottlosen mit Recht angerechnet wird, die sich freiwillig der Gnade Gottes versagt haben, damit der Vorwurf der Grausamkeit und Ungerechtigkeit von Gott abgewendet werde, damit von uns die Verzweiflung abgewendet werde, und die Sorglosigkeit abgewendet werde, damit wir zum Bemühen angespornt werden. Aus diesen Gründen wird von fast allen der freie Wille behauptet.“13
Man beachte, dass dies alles Gründe dafür sind, zu behaupten, der Wille sei frei, aber nicht dafür, zu glauben, er sei es tatsächlich! Indem er die Hintergedanken seiner Kampagne so ehrlich offenlegt, untergräbt er sie, weist aber zugleich auf ein Problem hin, das uns auch heute umtreibt: Wie kann jemand ernsthaft – und glaubhaft – eine Kampagne anzetteln, um zu zeigen, dass die Willensfreiheit real ist, wenn doch „jeder weiß“, dass wir große Probleme bekommen, wenn sie es nicht ist?
Wenn mir Erasmus wie ein Spindoktor vorkommt, dann muss ich all jenen als Spindoktor erscheinen, die bisher von meinen sorgfältig durchgeführten Analysen der erstrebenswerten Arten von Willensfreiheit unbeeindruckt geblieben sind. Ich habe versucht zu zeigen, dass nichts, was wir in der Wissenschaft (der Autorität, die ich gemeinsam mit den Wissenschaftlern teile, die den freien Willen als Illusion ansehen) finden, irgendeinen Zweifel an der wichtigen Art von Willensfreiheit nährt, der Art, die der moralischen Verantwortung zugrunde liegt. Das platziert mich solide im Lager der Kompatibilisten, also derjenigen, die darauf beharren, dass die Willensfreiheit mit dem Determinismus vollkommen vereinbar sei – wie auch mit dem Indeterminismus! (Ich behaupte, dass die Willensfreiheit sich mit der modernen Physik, der Biologie und Psychologie in Übereinstimmung bringen lässt und dass sie keine wundersame Flucht aus der physikalischen Kausalität erfordert, so dass der Indeterminismus der Quantenphysik irrelevant ist.) Der Kompatibilismus hat eine lange Geschichte, die sich mindestens bis zu David Hume ins 18. Jahrhundert zurückverfolgen lässt, und ist wahrscheinlich die vorherrschende Position seit Alfred J. Ayers (wenn auch zu simpler) positivistischer Variante14 Mitte des letzten Jahrhunderts.
Der Kompatibilismus hat trotz seiner Popularität unter Philosophen stets Argwohn hervorgerufen. Kant nannte ihn bekanntermaßen eine „elende Täuschung“, und heutige Autoren äußern oft ihre Zweifel an der Aufrichtigkeit derjenigen, die ihn vertreten. Und so sollte es eigentlich auch sein. Die Wissenschaft lehrt uns, gerade bezüglich des Wunschdenkens besonders wachsam zu sein, und viele der Regeln wissenschaftlicher Forschung wurden speziell zu dem Zweck entworfen, uns davor zu schützen, auf unsere Hoffnungen hereinzufallen, wenn wir glauben, von der Evidenz überzeugt zu sein. Stellen Sie sich vor, einige Astronomen würden verkünden, dass ein gigantischer Asteroid in zehn Jahren auf unserem Planeten einschlagen werde, alles Leben auslöschend, woraufhin eine andere Gruppe von Astronomen erklärte, ihre erneute Analyse der Daten zeige, dass wir alle aufatmen könnten; der Asteroid werde die Erde knapp verfehlen. Gute Neuigkeiten, aber woher wissen wir, dass sie sich nicht selbst betrügen – oder uns nur mit einer liebevollen Lüge täuschen? Prüfen Sie genau ihre Berechnungen; versuchen Sie, unabhängig davon die Daten zu reproduzieren; akzeptieren Sie nicht einfach ihre Schlussfolgerung, nur weil sie keine offensichtlichen Fehler enthält und Ihnen entgegenkommt! Aber vergessen Sie ebenfalls niemals, dass sie recht haben könnten. Machen Sie nicht den Fehler und diskreditieren – auf der Basis „allgemeiner Prinzipien“ – etwas, das scheinbar „zu gut ist, um wahr zu sein“! Ist der Kompatibilismus zu gut, um wahr zu sein? Ich denke nicht; ich glaube, er ist wahr, und wir können gründlich und entschieden die Panikmacher zurückweisen und zugleich unser Verständnis dessen, was unsere moralische Verantwortung rechtfertigt, reformieren und überdenken.
Jedenfalls kann man feststellen, dass, trotz all ihrer Plausibilität zu jener Zeit, Erasmus’ Sorge, Luthers Zurückweisung der Willensfreiheit würde eine soziale Katastrophe nach sich ziehen, scheinbar mit der Zeit gewaltig abgemildert worden ist. Lutheraner und andere Protestanten, die – weil es ein religiöses Dogma ist – verkünden, dass der freie Wille eine Illusion sei, waren offenbar deshalb nicht nutzlos oder weniger unternehmungslustig, nicht wahr? Max Weber argumentiert in Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus bekanntermaßen, dass der Fleiß, der dem Erfolg des Kapitalismus zugrunde liege, selbst eine direkte Wirkung der Theologie von Luther und Calvin