Ellenbogenfreiheit. Daniel C. Dennett
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Erasmus schreckt nicht vor der offenkundigen Schlussfolgerung zurück:
„Einiges ist aus sich heraus schädlich, weil es nicht geeignet ist, wie z.B. Wein für einen Fiebernden. Daher wäre es vielleicht erlaubt gewesen, solche Gegenstände in Unterredungen mit Gebildeten oder auch in den Theologieschulen zu behandeln, obwohl ich meinen möchte, daß es nicht einmal hier nütze, wenn es nicht maßvoll geschieht; im übrigen scheint mir, diese Art Theaterstücke vor einer gemeinen Menge aufzuführen, nicht nur unnütz, sondern geradezu verderblich.“6
Diese bemerkenswerte Passage verlangt zwei Bemerkungen: Erstens, verstrickt sich Erasmus hier nicht in einen pragmatischen Widerspruch, indem er einen Essay veröffentlicht, eine Unterredung gar, die die Empfehlung, über dieses Thema nur mit gedämpfter Stimme hinter verschlossenen Türen zu disputieren, jedermann preisgibt? (Eltern wissen, ein vor den Kindern ausgesprochenes „Psst! Nicht vor den Kindern!“ weckt mit Sicherheit deren Neugier auf das, wovor sie beschützt werden sollen.) Auf den ersten Blick scheint die Antwort Nein zu lauten, da die Streitschrift in lateinischer Sprache publiziert wurde, und des Lateinischen waren nur „die Studierten“ mächtig, ebendie Elite, der man zutraute, dass diese Themen innerhalb der theologischen Seminare verblieben. Aber wir dürfen nicht vergessen, dass sowohl Erasmus als auch Luther berühmt waren und dass die allgemeine Öffentlichkeit, sogar die Analphabeten, ein großes Interesse an ihren Worten, wenn auch nicht wörtlich, so doch wenigstens der Sache nach, zeigte. Daher verschwindet der pragmatische Widerspruch nicht zur Gänze, und tatsächlich sah sich Erasmus einem unangenehmen Dilemma ausgesetzt: Sollte er Luther einfach ignorieren und hoffen, dass seine schädlichen Ideen irgendwann verblassen, oder sollte er ihn attackieren, auch wenn dies der Meinung seines Gegners zu noch größerer Bekanntheit verhelfen und ihr eine gehörige Portion Prestige zuerkennen würde? Im ersten Absatz bringt er seine Ambivalenz zum Ausdruck: Luthers Assertio von 1520 habe die strittige Frage nach dem freien Willen „in eher erhitzter Weise aufgegriffen“, und daher „werde auch ich, durch meine Freunde ermutigt, versuchen, durch die folgende kurze Diskussion, die Wahrheit ans Licht zu bringen“. In unseren Tagen befinden sich jene von uns, die wiederholt von den Ideologen des intelligenten Designs herausgefordert werden, in derselben Verlegenheit, wenn sie die Theorie der Evolution durch natürliche Auslese in der Öffentlichkeit verteidigen müssen. Wir weigern uns meistens und ermutigen auch andere dazu, da die kapitalkräftige PR-Maschine der Kreationisten jede so gelagerte Debatte – wie gründlich auch immer ihre Wortführer verdroschen werden – ausnahmslos als weiteren Beleg dafür verkauft, dass ihre Position es verdient, von Wissenschaftlern ernst genommen zu werden. Soweit ich es überblicken kann, ist unser Problem schwieriger als das von Erasmus, da Analphabetismus kein großes Problem mehr darstellt und die Propagandatechniken, dank der modernen Medien, garantiert jede schlechtgewählte, aus dem Kontext gerissene Phrase verstärken werden. Wissenschaftliche und philosophische Debatten hinter verschlossenen Türen sind heute fast unmöglich, so dass wir besser auf unsere Wortwahl aufpassen sollten.
Meine zweite Bemerkung lautet, dass diese Offenheit heutzutage eigentlich ein Segen ist, kein Fluch, wie unbequem sie auch manchmal sein mag. Denn Erasmus’ Empfehlung – und es war natürlich nicht bloß seine –, dass theologische Schulen eine Freistatt für Diskussionen sein sollten, die nicht für die Ohren der Massen „geeignet“ seien, wurde über die Jahrhunderte nur allzu gut befolgt, mit dem Ergebnis, dass es nun eine Tradition systematischer Scheinheiligkeit in allen christlichen Kirchen gibt, die das Verhältnis zwischen Geistlichen und Gemeindemitgliedern infiziert und dazu führt, dass viele Geistliche sich in einem Netz aus Unaufrichtigkeit und unverblümtem Lügen verfangen, das ihr Leben verschandelt.
In den Vereinigten Staaten beschließen nicht wenige junge Menschen mit guten Absichten, die in Gemeinden mit einer starken Tradition zum Kirchgang aufgewachsen sind – nicht nur im sogenannten Bibelgürtel –, dass der beste Weg, Gutes zu tun in dieser Welt, darin bestehe, dem Stand der Geistlichen beizutreten. Wenn sie dann in die Seminare kommen, sind sie oft schockiert, wenn sie eine anspruchsvolle Welt der Bibelexegese und theologischen Nuancen entdecken, von der man ihnen in der Sonntagsschule oder in den Predigten ihrer Pfarrer nie berichtet hat. Diejenigen, die ihren Lebensplan nicht abrupt über den Haufen werfen und den Klauen der Kirche entkommen wollen, finden sich recht bald wieder als Mitschuldige in einer Verschwörung der Doppelzüngigkeit – mit einer Reihe vorherrschender stillschweigender Annahmen im Inneren der Seminarräume und einer zweiten Art und Weise, sich zum Wohle der Kirchgänger auszudrücken. Sie bewältigen den Drahtseilakt zwischen Taktgefühl am äußersten unschuldigen und dreister Lüge am äußersten unredlichen Ende mit variierenden Graden von Anstand und innerer Bequemlichkeit, wobei sie sich manchmal selbst quälen mit dem Bewusstsein ihrer tiefen Arglist und gelegentlich auch erfolgreich Kokons aus Metaphern entwerfen (oft verbunden mit einem Schuss Selbsttäuschung), in denen sie den Widersprüchen ihrer Lebensarbeit entfliehen können.
Linda LaScola und ich haben systematisch und streng vertraulich über mehrere Jahre hinweg vom Glauben abgekommene Geistliche interviewt, und wir erfahren eine Menge darüber, wie unterschiedliche Pastoren, von den liberalsten bis zu den am strengsten am Buchstaben hängenden Konfessionen, mit der Unstimmigkeit zwischen dem, was ihre Kongregationen von ihnen hören wollen, und dem, was sie selbst glauben, umgehen.7 Das Fehlen einer klaren Trennlinie zwischen Diplomatie am einen Ende des Spektrums und krasser Verlogenheit und Heuchelei am anderen Ende stürzt die Pfarrer fast unweigerlich in beunruhigende Gewissensbisse. Wir, die wir keine Pastoren sind, können uns glücklich schätzen, dass wir nicht allzu häufig im Leben schwierige Entscheidungen zwischen Höflichkeit und Ehrlichkeit treffen müssen, und jeder, der einen ungläubigen Prediger, der dennoch auf der Kanzel bleibt, kurzerhand zu verurteilen bereit ist, sollte wie wir einen genauen Blick darauf werfen, wie sie in dieses entsetzliche Dilemma geraten sind. Es sind gute Menschen, die durch ihre eigene Güte gefangen sind.
Obwohl wir noch keine genaue Schätzung abgeben können, wie verbreitet dieses Phänomen ist – vermuten doch einige Geistliche, die wir befragt haben, dass die Mehrheit ihrer Kollegen ihre Situation teile, obwohl sie dies nicht sicher wissen können –, hat keiner der Religionsführer, die unsere erste Studie kommentiert haben, seine Überraschung über unsere Entdeckungen oder gar Skepsis ihnen gegenüber zum Ausdruck gebracht. Ein Ableger unserer Studie, The Clergy Project (clergyproject.org), wurde 2011 ins Leben gerufen, um eine vertrauliche Online-Gemeinschaft für amtierende und ehemalige Geistliche anzubieten, die nicht an das glauben, was sie auf Geheiß ihrer Kirchen aus der Liturgie lesen oder von der Kanzel herab bekennen sollen. Es gibt bereits Hunderte von Mitgliedern und eine Reihe von Kandidaten, die darauf warten, überprüft zu werden. Es verlangt Mut, sich dort einzureihen, und Vertrauen in die Sicherheit dieser Webseite, so dass neue Bewerber um die Mitgliedschaft einer sehr sorgfältigen Überprüfung unterworfen werden, um sicherzustellen, dass keine Betrüger Zugang erlangen.8
Je mehr ich über das Wesen dieser heimlichen Absonderung des klerikalen Verständnisses vom laienhaften Verständnis gelernt habe, umso dankbarer bin ich dafür, dass sich die Wissenschaft noch keiner vergleichbaren Vorgehensweise verschrieben hat, trotz einiger Ermunterungen eminenter Denker. Im Chor der Wissenschaftler und Philosophen, die heutzutage erklären, der freie Wille sei eine Illusion, folgen einige unabsichtlich Erasmus’ Vorbild, indem sie öffentlich erklären, dass Schritte unternommen werden sollten, um diese Tatsache von der öffentlichen Aufmerksamkeit fernzuhalten, scheinbar ohne die schon fast skurrile Diskrepanz zwischen ihrem Ziel und ihren Mitteln zu bemerken. James B. Miles9 hat, was sehr nützlich ist, einen beeindruckenden Kader dieser „Illusionisten“ zusammengestellt, und unter ihnen finden sich meine guten Freunde, die Psychologen Steven Pinker und Daniel Wegner aus Harvard sowie Marvin Minsky vom MIT.