Oval. Elvia Wilk
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Mit einem Teil ihres Hirns hörte sie den Podcast, mit dem anderen dachte sie darüber nach, was jetzt wohl gerade im Labor vonstatten ging. Sie war leicht angespannt, weil sie den Vormittag dort verpassen würde. Wahrscheinlich hätte sie Howard bitten sollen, sich abends nach der Arbeit zu treffen.
In der Woche zuvor hatte die Simulation, die sie und Michel seit Wochen programmierten, endlich die Kultivierung von Zellen autorisiert. Heute war der erste Tag seit zwei Monaten, an dem sie nicht vor ihren Bildschirmen sitzen mussten, sondern winzige Dinge mit ihren wirklichen Händen in wirkliche Polystyrenschalen legen würden. Es war seltsam, sich auf einen Vorgang zu freuen, von dem sie zweifelsfrei wussten, wie er ablaufen würde. Immer und immer wieder hatten sie in Hochauflösung gesehen, wie die Routine sich vollzog; die absolute Vorhersagbarkeit der Ereigniskette war der einzige Grund, warum sie die ganze Sache überhaupt in einer Schale geschehen lassen durften.
Vor ihrem inneren Auge sah sie die Animation. Eine Zellmembran schwoll an, um an ihrer Peripherie einen neuen Fleck unterzubringen – einen verrückten Moment lang ein Ei mit zwei Eigelb – dann drängte der neue Fleck nach außen, bis schließlich der Rand der Zelle aus seiner Begrenzung ausbrach, um ein neuer, eigener Rand zu werden. Er schlüpfte bemerkenswert weit davon und rülpste sich in seine eigene, geschlossene Form – aus unmöglich wurde möglich. »Plop« sagte Michel jedes Mal, wenn sie die Duplikation auf dem Bildschirm verfolgten. »Plop-plop-plop.«
Sie tröstete sich mit der Tatsache, dass heute nicht der wichtigste Tag war. Erst morgen würde sich aus all diesen langsamen Plops eine Oberfläche bilden, die für das bloße Auge sichtbar war. Die Plops waren so entwickelt worden, dass sie sich sehr langsam vollzogen – so wuchsen sie zu einem Strang greifbarer Materie. Die Oberfläche würde zunächst durchsichtig sein und sich im Verlauf der Stunden zu einer perfekt symmetrischen Doppelwelle formen, wie die Kontur eines Gaumens, aber unfassbar glatt. Und so klein – perfekt angepasst an die Rahmenbedingungen der flachen Schale mit ihren nur 88 Millimetern Durchmesser, an die simulierte Sitemap einer simulierten Unterkunft, an das für das Gebäude vorgesehene Terrain. Gegen Ende des zweiten Tages würden die sich duplizierenden Zellen ein zartes, kleines Heim gebaut haben, indem sie Schicht auf parametrische Schicht legten, bis alles stimmte: ein vollkommen kreisförmiges, doppelbögiges Dach. Dann würde es aufhören. Knorpelgewebe in der ersten offiziellen Anwendung als Architektur. Ein perfektes, wachstumsfähiges, reproduzierbares, haltbares Dach, das Fin-Start in Form eines kleinen Bündels Zellen, die auf Kommando wachsen würden, überall in die Welt verschicken konnte. Zellen, die ursprünglich in ihrem Labor bei RANDI herangezüchtet worden waren.
Sie konnte Michel schon vor sich sehen, wie er seine Aufregung zu unterdrücken versuchte. Sie würde ihn hänseln, ihn Dr. Evil nennen, doch wenn das Ding ausgewachsen war, würden sie sich beide ein paar Minuten lang dem Eigenlob hingeben. Diese Woche würde ein Ventil bieten für all die öden Monate, die sie damit zugebracht hatten, Variablen in riesige Datenblätter zu tippen und dabei so zu tun, als wäre ihnen ihre Arbeit scheißegal. (Andererseits würden sie einander mit einigen verlegenen Blicken eingestehen müssen, dass der Erfolg einen Wendepunkt darstellte, nun waren sie verantwortlich für das, was sie bei RANDI taten. Bisher hatten sie das Unbehagen hinter Sarkasmus und Augenrollen verbergen können, aber bald würden sie sich mehr Mühe geben müssen, Gleichgültigkeit vorzutäuschen und zu behaupten, sie wüssten nicht, wo all dies hinführte. Darüber wollte sie sich nächste Woche Gedanken machen, sobald sie die kleine Formübung durchgeführt hatten, ein Nachweis der Machbarkeit, der sicher nur ein kleiner Schritt in einem Vorgang war, der erst in Jahren zur Anwendung kommen würde.)
Die Ampel an der Jannowitzbrücke unterbrach ihr Strampeln und das imaginäre Zellwachstum. Ein Schwarm Teenager in roten Kappen überquerte die Straße, für einen kurzen Moment war sie von ihnen umgeben. Drei Mädchen, die ihre Kappen verkehrt herum trugen – oh, kläglicher Widerstand! – liefen dicht hintereinander her. Es war einfach, anhand der Geometrie dieser Herde sofort das beliebteste Mädchen an der Spitze des Rudels auszumachen. Was hatte dieses Mädchen an sich, fragte sich Anja, dieses etwas reizlose, mit seinem Telefon beschäftigte Mädchen, dass es den Mittelpunkt der Gruppe bildete, das Eigelb im Zentrum der Aufmerksamkeit? Wie lautete der Faktor des sich selbst erneuernden Algorithmus, jener auffallend konsistenten Geometrie der Beliebtheit? Und wie konnte es sein, dass Anja nach all den Jahren die Antwort immer noch nicht kannte, dass sie selbst als erwachsene Wissenschaftlerin die versteckte Logik sozialer Übereinkünfte nicht verstand? Die Ampel schaltete auf Gelb, und die Gruppe eilte an ihr vorbei, angetrieben von einer Aufsichtsperson in einem roten T-Shirt. Zur gleichen Zeit übernahmen laut Podcast, der nun wieder zu ihr durchdrang, Quallen die Ozeane. In dem viel zu warmen Wasser starben andere Arten aus und überließen den Quallen den Raum, sich weiter zu vermehren. Einer dicken Steppdecke gleich breiteten sich die Quallen unterhalb der Wasseroberfläche aus, verstopften die Getriebe von Kraftwerken und blockierten den Fluss von Sauerstoff in die Tiefen des Meeres.
Howard ließ sie zwei Minuten warten, beinahe lang genug, dass sie noch einmal geklingelt hätte, eher er ihr die Haustür öffnete und sie ins Gebäude einließ. Sie wusste, dass er sie durch die kleine Kamera an der Klingelanlage sehen konnte, und fragte sich, ob er sie in aller Ruhe gemustert hatte, bevor er den Knopf drückte. Sie schleppte ihren klebrigen Körper hinauf ins Obergeschoss, auf dem Treppenabsatz hielt sie inne, um die Haut unterhalb ihrer Augen mit einem Taschentuch abzuwischen. Ein großer Teil ihrer angeblich wasserfesten Mascara war verlaufen. Schwitzen verbrennt Kalorien, hätte ihre Schwester gesagt.
Howard öffnete die Wohnungstür und drückte einen Kuss auf ihre erhitzten Wangen. Sie bemerkte einen feuchten Film auf seinem Kopf – der Kopf schwitzte, das war etwas, was sie bisher nicht für möglich gehalten hatte. Aber natürlich schwitzte ein Glatzkopf genau wie jeder andere. Sie ermahnte sich, nicht zu starren – Männer mochten das nicht – doch hier handelte es sich ja um Howard; er war seiner selbst sicher. Er war schon sehr früh kahl geworden und trug seine Glatze ohne all die Ängste jener Männer, denen das erst später im Leben widerfährt, er brachte sie nicht mit schwindender Männlichkeit oder irgendetwas anderem in Zusammenhang.
So handhabte er fast all seine besonderen Merkmale, als wären sie nebensächlich und mitnichten bemerkenswert. Wie etwa die Tatsache, dass er die einzige Schwarze Person in den oberen Rängen von Fin-Start in Deutschland war, was er nie thematisierte. Theoretisch arbeitete er in der PR-Abteilung von Fin-Start, aber Anja hatte im Laufe der Zeit verstanden, dass die Art von sanfter Macht, die er über die Jahre erlangt hatte, viel gewichtiger war, als sein offizieller Titel es erahnen ließ. Er würde nie nach London zurückziehen, so viel war klar. Er saß hier fest im Sattel. Sein tadelloses Deutsch konnte schneidend sein wie Papier.
Howard führte Anja den Flur entlang am Wohnzimmer vorbei, einem 50er-Jahre Wald aus Teakholz und Mahagoni, in die enge Küche, wo sie immer saßen. Möglichst weit weg vom Bett.
»Nur Wasser, danke«, sagte sie, als er ihr einen Becher anbot.
»Detox?«
»Ein bisschen hibbelig. Ich brauche kein Koffein.«
»Viel zu tun im Labor?«
»Ja, tatsächlich. Beziehungsweise kommt das jetzt