Der Erzähler Rudolf Steiner. Ulrich Kaiser
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Hier, auf diesem ersten Feld, fragen wir nach den Kriterien, nach denen werden könnte, was wir einerseits unter Wissenschaftlichkeit verstehen, in welchem Verhältnis sie sich zu mythologischen, künstlerischen, imaginativen Diskursen findet und wie wir auf diesem Hintergrund wiederum Steiners Werk kritisch und zugleich angemessen verstehend nachvollziehen können. Es geht in diesem Sinne darum, Proben durchzuführen. Es geht um das Verstehen der Aussagen Steiners, um ein Verstehen auf aktuellem akademisch-wissenschaftlichem Hintergrund. Den Begriff der Hermeneutik verwende ich dafür in einem offenen, nicht festgelegten Sinn, der auch eine prähermeneutische Dimension mit meint, die nicht in Sprache aufgeht16 oder eine posthermeneutische Situation17 einschließt, die eingesteht, dass versprachlichende Sinnbildung nicht vollkommen möglich ist. Der Ausdruck »Hermeneutik« steht hier für die schlicht jeweils neu sich stellende Frage: Wie können wir Steiner angemessen verstehen? Mit ihm geht die Voraussetzung einher, dass es da etwas womöglich Lohnendes zu verstehen gebe und dass das Nachvollziehbare zu unterscheiden sei von dem kritisch zu Scheidenden. Bekanntlich kann sich »die Angemessenheit des Verstehens […] keinesfalls am Grad des Einverständnisses bemessen.«18
Überschreitung von Gattungsgrenzen
Zweitens ist zu berücksichtigen, dass der Wissenschaftsanspruch nur einen Teil von Steiners Lehre darstellen kann. In ihrer Entwicklung tritt Anthroposophie zunehmend künstlerisch in Erscheinung. Und zwar so, dass der Kunst nicht ein ornamentaler Charakter zugewiesen wird, der die Erkenntnisse lediglich schön und angenehm einkleidet. Der Kunstanspruch gehört gewissermaßen von Anfang an im Kernprozess dazu und viele wissenschaftliche Aussagen sind zugleich künstlerische. Wenn wir in der Kunst lediglich einen Ort der Beliebigkeit sehen, stellt sich die Frage, wie diese ursprüngliche Verbindung mit dem Wissenschaftsanspruch vereinbar ist.
Die Frage stellt sich umso mehr, als Steiner eine religiöse Vertiefung für seine Aussagen beansprucht, dass ihm in gewisser Weise die säuberliche Trennung zwischen Wissen und Glauben, eine Errungenschaft unserer Kultur, als zu einfach erscheint. Denn es gehört zum Beispiel für ihn zur spirituellen Entwicklung – sie soll zu »höheren Erkenntnissen« führen – die Pflege religiöser Gefühle wie Ehrfurcht oder Devotion.
Eine weitere Grenzüberschreitung ist darin zu sehen, dass große Teile von Steiners Anthroposophie als Esoterik einzuordnen sind. Was den Wissenschaftsanspruch angeht, hätten wir es mit einem ähnlichen Verhältnis zu tun, wie es die Alchemie zur Chemie darstellt. Tatsächlich kann Steiner sowohl im Sinne der Chemie wie der Alchemie sprechen und tut dies auch.
Auf diesem zweiten Feld haben wir es mit dem Thema der Gattungsgrenzen zu tun. Um was für eine Gattung von Diskurs handelt es sich bei der Anthroposophie? Ist sie eine Form des künstlerischen Ausdrucks, bei dem Wahrheitsfragen im Hintergrund stehen? Ist sie letztlich doch eine Religion? In welchem Sinn kann die neuere Esoterikforschung über ihre Besonderheiten aufklären? Immerhin sind es renommierte Vertreter der westlichen Esoterikforschung, nämlich Wouter J. Hanegraaff und Egil Asprem, die Vorworte zu der neuen Kritischen Ausgabe seiner Schriften schrieben.19 Wichtig bleibt, dass die Felder der Kunst, der Religion und der Esoterik nicht miteinander oder mit anderen verwechselt oder vermischt werden, sondern dass Klarheit über die jeweiligen Regeln bestehen bleibt und deutlich ist, in welchem »Wahrheitsprogramm«20 wir uns jeweils befinden.
Der Althistoriker Paul Veyne versteht das von ihm vorgeschlagene Konzept der Wahrheitsprogramme analog zu Radioprogrammen, die auf einer bestimmten Frequenz gesendet werden im Unterschied zu anderen Programmen, die andere Frequenzen oder Wellenlängen benötigen. So kann er verständlich machen, dass die Griechen zwar an ihre Mythen glaubten, dass es ihnen aber niemals in den Sinn gekommen wäre, zu erwarten, dass einer der Götter ihnen leibhaftig auf der Straße begegnet wäre. Es geht um das kohärente Gespür für die Seinsebene (das Programm, die Wellenlänge) bestimmter »Wahrheiten«, die in einem Kontext richtig, in einem anderen aber falsch sein können. »Unser Alltagsleben besteht aus einer Vielzahl verschiedener Programme, […] unablässig gehen wir von einem Programm zum anderen über, so wie man im Radio die Wellenlänge wechselt, aber wir tun es, ohne es zu wissen. Die Religion ist nur ein einziges dieser Programme und wirkt sich kaum auf die anderen aus.«21 Das heißt, »dass die Wahrheit in der Mehrzahl existiert und analogisch ist. […] wir befinden uns immer im Wahren, selbst wenn wir, ohne es zu bemerken, die Wellenlänge wechseln […] Die verschiedenen Wahrheiten sind in unseren Augen alle wahr, aber wir denken sie nicht mit dem selben Teil unseres Kopfes.«22 Veynes Beispiel für die unkomplizierte Vereinbarkeit verschiedener Wahrheitssysteme ist ein mit ihm befreundeter Arzt, der sowohl begeisterter Homöopath ist, aber in schwierigen Fällen auch Antibiotika verordnet. Er vermag offenbar die verschiedenen Wahrheitsprogramme, mit denen er arbeitet und die sich eigentlich ausschließen oder jedenfalls nichts miteinander zu tun haben, so zu verbinden, dass er weiß, wann er in welches Programm wechseln muss. Eine Schwierigkeit bestünde nur, wenn er eines der Programme verabsolutieren würde.
Veynes prägnant ausgearbeitete Idee der Wahrheitsprogramme hat zwei bemerkenswerte Seiten. Zum einen bietet es die Möglichkeit, unterschiedliche Aussagesysteme wie die Überzeugung des Virologen (er sendet auf einer teilchenorientierten Wellenlänge) und jene des Immunologen (seine Wellenlänge ist systembasiert) oder des Evolutionsbiologen und des Christen oder eines dezidiert fiktionalen und eines nüchtern faktualen Textes jeweils für sich gelten zu lassen, ohne sofort Einwände zu erheben, die aus einem anderen Programm sozusagen illegitim kommen. Es ist die Haltung des Zuhörers, der eine Erzählung aufmerksam verfolgt, um sie zunächst für sich zu verstehen, der sich für das Programm interessiert und sich auf es einlässt. Veyne unterlässt es aber zu fragen, welche Dynamik im Spiel ist, wenn wir zwischen den Programmen wechseln, ohne sie im selben Moment auch zu vergessen. Wo liegen die Berührungspunkte oder -flächen zwischen den Programmen und was passiert, wenn wir vom einen ins andere übergehen und dieses Übergehen denken und nicht ausblenden?
Paul Veyne hat seine Idee vom Anfang der 1980er-Jahre später eingeschränkt und als unausgereift bezeichnet23 und er ist gerade jüngst kritisiert worden dafür, dass er Wahrheitsansprüche aufgebe und keine qualitativen Unterschiede im Sinne von faktual und fiktional zwischen den Programmen mache.24 Die Kritik ist richtig, sofern sie sich auf sein überzogenes Phantasma der »Paläste der Einbildungskraft«25 richtet, in dem alle Diskurse fiktiv wären. Wertvoll aber sind die Wahrheitsprogramme als heuristische Idee, durch die wir bemerken, wie wir mit unterschiedlichen Wahrheitssystemen umgehen; so sind sie klare Vorübungen zu ungetrübter Ambiguitätstoleranz und zum Verstehen unterschiedlicher Denksysteme. Eine besondere Bedeutung erhalten sie dann, wenn wir die Übergänge, die möglichen Interdependenzen und Analogien und die Dynamiken zum Thema machen, die sich in den Rand-, Konflikt- und Schwellenbereichen zwischen Denksystemen zeigen.
Rudolf Steiners vielleicht prägnanteste Adaption der Wahrheitsprogramme avant la lettre ist seine Unterscheidung zwischen sinnesbasierter und übersinnlicher Wissenschaft in der Schrift »Von Seelenrätseln«