Der Erzähler Rudolf Steiner. Ulrich Kaiser
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Der Ausdruck »das Werk Rudolf Steiners«, den ich gerne verwende, schließt Missverständnisse, Irrtümer und Fehler im Werk und dessen Überlieferung mit ein. Gut ist, wenn wir uns darüber im Klaren sind. Der Ausdruck schließt ebenso »Kontingenz« mit ein. Damit meine ich zum Beispiel das Fragwürdige36 aber auch die bemessbare Verlässlichkeit der Ausgabe seiner Werke, die zum größten Teil gar keine Schriften sind, sondern frei gesprochenes ephemeres Wort in verschriftlichter Form, die Architektur sind und soziale Kunst und Handlungskonzepte bergen sowie Selbstformung fordern. Da wir Steiners Werk in erster Linie aber in Form von Texten rezipieren und es weitgehend diese Texte sind, die uns den Zugang ermöglichen, sehe ich die Gesamtausgabe seiner Schriften selbstverständlich als Teil von Steiners Werk an, bei aller denkbaren Ungenauigkeit. Im Einzelnen ist zu differenzieren. Wenn eine starke Deutung von einer Textstelle abhängt, ist es ratsam, sich über deren Überlieferung und Authentizität im Klaren zu werden, dichte Beschreibung zu aktivieren oder schlicht eine Interpretation investigativ zu riskieren. Ansonsten ist eine gewisse Unschärfe überlieferter Worte einkalkuliert. Natürlich ist die Gesamtausgabe seiner Schriften nicht Steiners Werk, sondern das Werk derjenigen, die sie zustande gebracht haben. Aber eben das umgreift Steiners Werk, das mehr ist, als das Werk einer Einzelperson. Im Übrigen verweise ich, was das Verhältnis der Ausdrücke »das Werk Rudolf Steiners« und »Anthroposophie« angeht, auf den »Epilog« des Kapitels »Das Performative als ursprüngliche Dimension der Anthroposophie«.
Dekonstruktion des Dogmas
»Dringlich wird, für den Begriff, woran er nicht heranreicht, was sein Abstraktionsmechanismus ausscheidet, was nicht bereits Exemplar des Begriffs ist.«
»Ein wie immer fragwürdiges Vertrauen darauf, dass es der Philosophie doch möglich sei; dass der Begriff den Begriff, das Zurüstende und Abschneidende übersteigen und dadurch ans Begriffslose heranreichen könne, ist der Philosophie unabdingbar und damit etwas von der Naivität, an der sie krankt. Sonst muss sie kapitulieren und mit ihr aller Geist.«
Theodor W. Adorno37
Die Ausdrücke »Dogma« oder »dogmatisch« gehören zu den Reizwörtern in anthroposophischen Kreisen. Steiners Darstellungen, so der Konsens, seien keineswegs als »Dogmen« im Sinne unverrückbarer Meinungen oder Lehren zu verstehen. Und als »dogmatisch« eher verpönt gelten Ansichten oder Überzeugungen, die nicht aus eigenem Erleben oder eigener Erfahrung stammen, sondern unbeweglich und intolerant vertreten werden. Ist der Anspruch, undogmatisch zu sein, im Kern ein anthroposophischer, so begegnet gegenläufig dazu doch wiederkehrend der Vorwurf, es würde »gläubig« oder dogmatisch am Wort Steiners festgehalten.38 Schlägt eine antidogmatische Einstellung hier um in Dogmatismus? Wie dem konkret auch sei, es gilt: Antidogmatismus als Programm schützt vor dogmatischen Verfestigungen keineswegs. Aber: Worin liegt der Reiz antidogmatischer Einstellungen und warum sind sie immer in Gefahr zu scheitern?
Im Folgenden möchte ich – auf dem Hintergrund dieser prekären Situation – mit einigen Momentaufnahmen aus der Entstehungszeit der Steiner‘schen Theosophie zeigen, dass den jeweiligen »Dogmen« im Sinn von Lehrdarstellungen eine in sich widersprüchliche Funktion innewohnt: Sie sollen akzeptiert, aber auch wiederum nicht akzeptiert werden. Verbindet sich mit dieser ambivalenten Forderung gar ein systematischer Sinn und wenn ja, welcher? Im Anschluss an die Erörterung dieser Frage schlage ich drei hermeneutische Regeln vor, die Steiners vorliegendem Werk aus einem mittlerweile in Jahresringen fortschreitenden hundertjährigen Abstand und unter Einbeziehung einer historisch-kritischen Perspektive gerecht werden sollen. Ich beginne indessen, als Ausgangspunkt, mit einer Begriffsbestimmung in drei Schritten, die in ein Gravitationszentrum des Steiner’schen Denkens, Kant und den Deutschen Idealismus, hineinführen.
Erste Differenzierungen: begriffliche, symbolische und narrative Form
Als Steiner nach 1900 seine Aufgaben als Kulturredakteur und philosophischer Schriftsteller mit der des Vortragsredners, Lehrers und Generalsekretärs der Theosophischen Gesellschaft tauscht, bedeutet das auch einen Wechsel in der Ausdrucksweise. War diese bislang vorwiegend begrifflich-kritisch gewesen, so ziehen mit den Lehrinhalten der angelsächsischen Theosophie zunehmend Ausdrücke und Themen in seine Darstellungen ein, die traditionell eher der Religion oder der Mythologie entstammen und einen vorwiegend bildlich-affirmativen Charakter haben. Im Unterschied zur begrifflichen Weitergabe »auf Augenhöhe« gelten letztere, wenn nicht als pure Traditionen, so doch als Offenbarungen oder Glaubensinhalte, die gewissermaßen »asymmetrisch« rezipiert, also auf Autorität hin geglaubt, nicht gedacht werden.39
Gleichwohl ist hier zu beachten, dass spezifisch theosophische Inhalte wie die Wesensgliederlehre, die Hierarchien- oder die planetarische Weltentwicklungslehre zwar symbolische oder theologische/esoterische Ausdrucksformen und Themen wie Engel oder (esoterisch verstandene) Planeten verwenden, aber ihrem Gehalt nach begrifflich gedacht werden sollen. Steiner hört nach 1900 nicht auf zu denken. Der theosophische löst den philosophischen Steiner nicht einfach ab, sondern beide durchdringen, überblenden sich. Steiner lässt seine philosophischen Ansprüche keinesfalls hinter sich, sondern weitet sie auf neue Inhalte aus, die mythischer oder religiöser Herkunft sind und oft mit symbolischer Ausdrucksweise einhergehen.
Des Weiteren muss im Feld der Steiner’schen Aussagen differenziert werden: Manche Passagen oder Gruppen seines theosophischen Werks sind vorwiegend begrifflich-symbolisch strukturiert wie seine Schrift »Geheimwissenschaft im Umriss« oder viele »Esoterische Stunden«.40 Andere wiederum sind in der Darstellung vorwiegend narrativ gehalten und setzen stärker auf die erzählten Inhalte, weniger auf begriffliche Dynamik und Kohärenz. Die Aufsatzfolge »Aus der Akasha-Chronik« (GA 11) aus der Zeitschrift »Luzifer-Gnosis« mit der signifikanten, weitgehend aus der Literatur referierenden Schilderung »atlantischer Flugzeuge« ist dafür ein prominentes Beispiel.41 An solchen Stellen ist das Symbolische oder Bildhafte der Form, wenn man so will, vorwiegend narrativ, kaum noch begrifflich. Es ist also auch kaum in sich begrifflich nachvollziehbar und in der Bewertung eher vom autoritativen Status des Erzählers abhängig als von der Frage: Habe ich Gründe, (einer Person, einem Text, einer Aussage, einer Institution) zu glauben, oder eher nicht?42
Dogma und Kritik
An dieser Stelle gewinnt das problematisch verstandene Wort des Dogmas seine Bedeutung und zwar zunächst im Sinne einer persönlichen Haltung. Dogmatisch bin ich dann eingestellt, wenn ich auf Autorität hin glaube, nicht aber eigenständig denke. Auf Autorität hin zu glauben impliziert bereits meine Zustimmung. Eigenständig und kritisch zu denken würde aber Zustimmung oder Ablehnung zunächst offenlassen. Zwischen Aussage und Zustimmung besteht keine Kontinuität, sondern ein Bruch, der Offenheit anzeigt. Genau diese Offenheit ist interessanterweise in der philosophischen Begriffsgeschichte des Wortes »Dogma« anfangs zu finden. Seiner Herkunft nach beinhaltet das Wort nämlich einen Doppelsinn, den zwischen einer Meinung einerseits und dem Dafürhalten oder Geltendmachen dieser Meinung andererseits.43 Während sich der eine Bedeutungsaspekt auf den Inhalt einer Meinung richtet, geht der andere auf die Geltung des Gemeinten oder den Akt der Zustimmung. In der Begriffsgeschichte, insbesondere in der heutigen Alltagsverwendung des Wortes, hat sich der zweite Aspekt verselbstständigt: Dogma