Der Erzähler Rudolf Steiner. Ulrich Kaiser

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Der Erzähler Rudolf Steiner - Ulrich Kaiser

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an der Grenze zwischen Scheitern und Gelingen. Für Steiner jedenfalls bleibt die »Dogmatik« ein notwendiger Gegenbegriff, den er als Widerhalt braucht, von dem er sich aber unentwegt abstoßen muss.71 Und Dogmen im Sinn von Lehraussagen verstehen sich in seinem Kontext als Voraussetzungen, Mittel, Vehikel, aber nicht repetitiv zu zitierende Inhalte vermeintlich eigenständiger Erkenntnis.72

      Die bisherigen Darstellungen zusammenfassend und zugleich weiterführend, skizziere ich drei Lektüreregeln zu Aspekten der Darstellungsform, der Geltung und des Kontextes von Steiners (Lehr-)Aussagen, die sich in der Konsequenz weniger im Sinne von bloßer Ambiguitätstoleranz als einer explizit geforderten methodischen Auseinandersetzung ergeben. Es handelt sich gewissermaßen um Leseanweisungen, Lektüreregeln, die ich in Steiners Werk vorfinde und die den ambivalenten Status des Dogmas berücksichtigen, ja, von ihm gefordert werden, vielleicht kann man auch sagen: ihn erlösen.

      Ästhetische Differenz: Darunter verstehe ich das Absehen vom semantischen Gehalt einer Aussage und die Aufmerksamkeit auf ihre Art oder Form. Da es besonders in Steiners Werk sehr unterschiedliche Arten oder Formen von Aussagen gibt, spreche ich sehr allgemein von einer Differenz, also einem »Absehen von« und einem heuristischen »Hinsehen auf«. Es ist ein Achten auf den Unterschied, bei dem zunächst offenbleibt, was die Art der Aussage jeweils ausmacht. Die Regel bedeutet in ihrem Kern einen Vorrang des Wie vor dem Was, wobei das Was nicht bedeutungslos wird. Dafür gibt es im anthroposophischen Kontext verschiedene Vorarbeiten, 73 in konkreten Arbeitszusammenhängen wird Goethes Satz »Das Was bedenke, mehr bedenke Wie?«74 als Motto oder Orientierung gerne zitiert. Grundlegende Studien stehen aber aus.

      Im konkreten Kontext einer historisch-kritischen Vorgehensweise, die ich in diesen Studien auch im Blick habe, findet die Regel ihre Anwendung beispielsweise darin, dass ich darauf achte, was Steiner aus einer bestimmten belegbaren literarischen Quelle (also etwa Scott-Elliots Schrift »The Story of Atlantis«) »gemacht« hat, also wie er sie aufgreift, verarbeitet, verwandelt, »kohärent verformt«.75 Ich komme auf das Beispiel in der letzten dieser Studien zurück. In der Differenz ist im Unterschied zur Quelle das Eigenständige zu finden, nicht in einer naiv prätendierten Kontextlosigkeit oder überzeitlichen »Schau« oder »Hellsichtigkeit«. Dies gilt, sofern es sich um historisch-quellenkritische Arbeiten im Kontext von Geschichte handelt. – Für die Philosophie gilt ähnliches, aber in anderer Art, nämlich als Erfahrung im Denkprozess, auf die folgendermaßen hingewiesen werden kann: »Worauf es vor allem ankommt, ist die daran [an der Bewegung des Begriffs, U.K.] gemachte Erfahrung, dass etwas im Bewusstsein vorkommt, welches dadurch, wie es auftritt, über das Bewusstsein hinausweist.«76 – Inwieweit historisch-quellenkritische Forschung und immanent-begriffliche Philosophie miteinander vermittelbar sind, ist eine eigene Frage, die bislang nicht systematisch bearbeitet wurde, durch Steiners Verständnis esoterischer historischer Forschung aber aufgeworfen wird.77

      Wohlgemerkt handelt es sich um eine Leseanleitung, also eine methodische Maxime, keine ontologische Aussage. Über den genauen Zusammenhang zwischen Darstellung und Gehalt etwa im Sinn des Satzes form follows function den man auch verstehen könnte als form shows meaning ist damit noch nichts gesagt. Das Wahre und das Schöne sind zwei unterschiedliche Kategorien und es muss einer eigenen Untersuchung vorbehalten bleiben, wie Gehalt und Darstellungsart in Steiners Werk und grundsätzlich ineinander vermittelt sind.

      Hermeneutische Distanz: In einer bekannten Formulierung aus Steiners »Philosophie der Freiheit« ist die Rede davon, man müsse sich der Idee (in unserem Kontext, nicht identisch damit: den Dogmen) »erlebend gegenüberstellen«, sonst gerate man unter ihre »Knechtschaft« (GA 4, 271, Ausgabe 19182).78 Es ist also nicht die Rede von einem erlebenden ›Eintauchen‹ oder einem Verlust der Distanz, sondern einer dezidierten Distanzierung, die gleichwohl den erlebenden Bezug, die Verbindung nicht aufgibt.79 Die Distanzierung schafft Abstand, macht insofern sichtbar und setzt zugleich im Sinne der stoischen oder phänomenologischen »Epoché« (= Enthaltung der Zustimmung oder Ablehnung) die Geltung einer Aussage außer Kraft. Der erlebende Bezug wiederum ist Grundlage des Verstehens, aber zugleich auch der Eigenständigkeit und Selbstverantwortung, die einer Aussage Geltung aus sich verleihen können. Er unterscheidet sich von einer unbeteiligten oder gar zynischen Distanziertheit oder Teilnahmslosigkeit. Er unterscheidet sich genauso vom distanzlosen Zitat, blinder Bestätigung. Das Stichwort der Knechtschaft bezeichnet den nicht gewünschten dogmatisch-abhängigen Bezug.

      Dialogische Konstellation: Einen großen Teil seiner Aussagen trifft Steiner dezidiert in lauschender, antwortender, möglicherweise sogar responsiver80 Haltung gegenüber seinen Zuhörern. »Ich höre auf die Schwingungen im Seelenleben der Mitgliedschaft, und in meinem lebendigen Drinnenleben in dem, was ich da höre, entsteht die Haltung der Vorträge.« (GA 28, 444, vgl. 451). Vermutlich gilt diese Abhängigkeit vom Kontext weit mehr, als Steiner explizit deutlich macht. Viele, wahrscheinlich alle der praktischen Gründungen etwa in der Pädagogik, der Medizin oder der Landwirtschaft gehen auf die Initiative oder Anfrage anderer zurück, auf die Steiner dann erst »sprudelnd« antwortet. Selbst die theosophische Karriere Steiners ist ohne die Initiative und permanente Unterstützung von Marie von Sievers, später Marie Steiner oder anderer wie Michael Bauer oder Carl Unger nicht denkbar. Steiners Werk ist deshalb in eminenter Form eingelassen in sein Umfeld, Teil von persönlichen Konstellationen81 und weitgehend nur von da her verstehbar. Konstellationsforschung in diesem Sinn ist ein Desiderat, weil sie die Konstellationen aufzuweisen vermag, in welchen sich Steiner bereits befindet. Das gilt schließlich nicht nur auf Personen bezogen, sondern ebenso auf das kulturelle Umfeld und die Bildungsinfrastruktur (also Steiners Bibliothek zum Beispiel).

      Im Feld dialogischer Konstellationen allerdings, auf die es mir hier hermeneutisch ankommt, ist insbesondere der Situation Steiners als eines (je) Anderen Rechnung zu tragen. Jeder Andere nämlich, im Sinne der Philosophie von Emmanuel Levinas (1906–1995), steht hermeneutisch prinzipiell höher als ich, in Asymmetrie82 zu mir, insofern ich, was von ihm kommt, grundsätzlich nicht berechnen kann. In diesem Sinn bereits ist Steiner ein Anderer. Mit seinem starken Werk ist er das sogar in besonderer Weise. Der Andere im Sinne von Levinas freilich zeichnet sich nicht in erster Linie durch seine Stärke aus, sondern durch seine Verletzlichkeit. Die verletzlichen Seiten am Werk Steiners zeigen sich zwar in der möglichen Kritik, mehr aber noch in der allgegenwärtigen Möglichkeit des Nicht-Verstehens. Das Nicht-Verstehen kann darauf zurückgehen, sich nicht auf einen verwandelnden Standpunkt begeben zu wollen; es kann aber auch darin bestehen zu meinen, das Werk, die Worte, die Sätze in der bloßen Wiederholung verstanden zu haben. Die Worte Steiners dürfen nicht in der Art eines Echos wiederholt werden, das als Antwort leer bleibt. Sie müssen verantwortet werden, indem sie sich in der Antwort zu einem Eigenen verwandeln. Indem sie Möglichkeiten aktivieren. Auch Steiners Werk muss gegebenenfalls unbequem befragt werden. Es bedarf unserer Fragen. Es muss sich durch unsere Fragen weiterentwickeln.

      Auch insofern sind dialogische Konstellationen immer asymmetrisch strukturiert. Allerdings wechselweise asymmetrisch, nicht festgefroren. Steht das Ideal der Augenhöhe für den zwangslosen Zwang besserer Argumente und eines entspannten Austausches, für das gegenseitige sich frei lassen und sich frei fühlen im Gespräch, so birgt es die Gefahr der Nivellierung und des bequemen Einverständnisses. Tiefer und grundlegender als Augenhöhe liegt Asymmetrie. Vielleicht wird Augenhöhe durch Asymmetrie erst ermöglicht. Asymmetrie: das Bemerken des Andersseins, das Geltenlassen von Diversitäten, die Sphäre der Möglichkeiten, der Irritation und Anziehung, der allmählichen Entwicklung, der tastenden Suche, der Angewiesenheit auf Inspiration, der Mühsal des Verstehenwollens, der überraschenden Einsicht: der dialogischen Konstellation. Das freie und gleichwohl nicht willkürliche bilaterale Spiel83 dieser Konstellation lässt, wo es nicht festhakt, Dogmatisierungswirkungen nicht zu und löst, wo es kultiviert wird, die Verkrustungen vorhandener Dogmatisierung auf. Dann freilich ist es ein Feld der Konstellationen, in dem Steiner nicht der einzige Bezugspunkt sein kann und nicht die einzige Person ist, die erzählt.

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