Der Erzähler Rudolf Steiner. Ulrich Kaiser

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Der Erzähler Rudolf Steiner - Ulrich Kaiser

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id="ulink_eb0fc7f8-8e6e-5c55-8ea9-e19e914a4fd9">Dogmen, pejorativ verstanden

      Gegen Lebendigkeit und Selbstverantwortung wirkend – einige Fundstellen dazu im Werk Steiners84:

      »Die Theosophie hat keine Dogmatik. Sie will nur spirituelles Leben sein.« (GA 34, 552); »Nicht ein Buch haben wir in der Hand und verkünden die Lehrsätze des Buches, Leben sind wir, und Leben wollen wir mitteilen. Und so viel Leben wir mitteilen, soviel wird die Theosophie wirken.« ( GA 52, 419); ähnlich (GA 53, 43 und 447); Gegenbegriffe zur Dogmatik (»mit ein paar Rezepten aus der Gedankenfabrik«): Hingabe, Erkenntnis, »gesundes, tiefes, eingehendes Denken« (GA 56, 232); Theosophie als positive Lebenshaltung, nicht kalter Dogmatismus ( GA 53, 86); »Vertiefung unseres ganzen geistigen Lebens«, nicht »Summe von Lehren und Dogmen« (GA 54, 334); Gegenbegriff: »Vertiefung«, bloße Dogmen ergeben »Phantasterei« (GA 101, 81); »ungeprüft soll nichts einfach wiederholt werden« (GA 126, 59), »individueller Einschlag« als Profil der deutschen Sektion der Theosophischen Gesellschaft (GA 126, 59); theosophische Lehren »nicht als Dogmen hinnehmen« sondern als »Anfeuerungsmaterial für die Seele« einsetzen (GA 127, 151); sie sind »Heizmaterial für den Menschen« (GA 106, 173); Theorien vs. geistiger »Lebenssaft, Lebenstrank, Lebenselixier« (GA 116, 53); statt Dogmen »fließendes Leben« (GA 109, 267); »Mitteilungen nicht wie Dogmen aufnehmen« (GA 60, 219); »festgestellte, starre, erstarrte Dogmen« (GA 168, 102); nicht »abgeschlossene Dogmen« ( GA 198, 91); »nicht bloß leere Dogmen, … sondern im eminentesten Sinn Leben« (GA 284, 125); gegenüber dem »Dogmengezänke … ins Leben eintreten« (GA 303, 10); eine faktische Schwierigkeit innerhalb der Theosophischen Gesellschaft sei gewesen: »ein großer Teil der Mitglieder schwor auf Dogmen.« (GA 28, 412); vgl. auch den Bericht von dem Kongress der Föderation europäischer Sektionen der Theosophischen Gesellschaft in Paris 1906: »Es wurde gesagt, dass vor allem eine gewisse Art des Denkens und Fühlens den Theosophisten [sic] mache, weniger aber die Aufnahme bestimmter Dogmen und Lehren« (GA 34, 581). – »Dem Okkultisten geht es niemals darum, Dogmen aufzustellen. Er erzählt, was er gesehen hat, was er erforscht hat …« (GA 94, 66).

      Vehikel der Erkenntnis und der Verwandlung des Lebens – weitere Fundstellen im Werk Steiners:

      Es käme darauf an, »zu verlernen, in der Anerkennung eines Lehrsatzes das Richtige zu suchen« (GA 52, 422, meine Hervorhebung). »Nicht bloß, um mit dem Verstande theosophische Dogmen zu begreifen, werden diese Lehren erteilt, sondern um mit dem Herzen sie zu erfassen« (GA 109, 249). Die Theosophische Gesellschaft sei »nicht nur Stätte der Verbreitung von diesen oder jenen Dogmen«, sondern wolle » tief ein[zu]greifen in das ganze Leben des Menschen « (GA 284, 89). Bemerkenswert ist der methodische Ansatz, »Dogmen und abstrakte Bilder … in Bilder [zu] verwandeln« (GA 98, 22 f.). Die Theosophie »predigt« nicht einzelne Dogmen (GA 34, 506), es geht nicht um »Propagierung irgendwelcher Dogmen« (GA 53, 43). Dogmatik »kann durchaus Wahrheit enthalten«, es komme allerdings darauf an, sie zu verstehen und erkennen (GA 97, 169). Von »großen Lehren der Anthroposophie« ist die Rede (GA 174b, 23). Es gibt auch die Vokabel »verkünden« – die verkündeten Lehren sollen aber vom Allgemeinen zum Besonderen hin verstanden werden, wozu auch gehört, dass »wir dann in gewisser Weise das modifizieren müssen, was … noch dahinter liegt« (GA 108, 318, meine Hervorhebung). Steiner erläutert unter dem Motto »unsere anthroposophische Überzeugung« die Devise, ins praktische Leben hineinzuwirken (GA 192, 12). Zentrale Aufgabe des Theosophen sei es, »Vernunft auf die Lehren an[zu]wenden, die ihm zufließen« (GA 264, 223). »Bei der theosophischen Bewegung handelt es sich darum, dass die Lehren, die wir verbreiten, das Mittel sind, um das innere Leben im Menschen zu entzünden« (GA 264, 370, meine Hervorhebung). Eine exoterische Lehrstunde unterscheide sich von einer esoterischen darin, dass in ersterer Lehren »aufgenommen« würden, in letzterer aber »erlebt« (GA 266/I, 251). Ein »gründliches Studium« der Lehren sei nötig, um »andere Menschen« zu werden (GA 266/II, 142). Es »können unsere Lehren nur geistig aufbauen« (GA 266/III, 56). Affirmativ erwähnt werden »unsere geisteswissenschaftlichen Lehren« auch in (GA 286, 70).

      Lob der Hypothese

      »Gewiss, jeder kann das nachprüfen … Da werden gewiss mancherlei Irrtümer drinnen sein, selbstverständlich, aber das ist genauso wie bei anderen Forschungen.«85

      Im Umgang mit dem Werk Rudolf Steiners sind es oft unausdrückliche Konzepte, die unsere Rezeption leiten. Ein solches Konzept ist das des »Hellsehens«. Damit ist etwa gemeint, dass Steiner mehr und anderes sieht oder weiß als wir selber und dass wir uns deshalb auf Steiners »Mitteilungen« oder »Angaben« als eine besondere Wissensquelle beziehen können. Dieses Wissen ist unantastbar, weil wir selber als Rezipienten nicht mitvollzogen haben, wie es zustandekommt und über die entsprechenden Wahrnehmungen nicht aus eigener Hand verfügen.

      Das unmittelbare Vorbild von Steiners Wissensgenerierung scheint die spiritistische Seance zu sein, also eine quasi experimentelle Situation, in der alles, was an Übersinnlichem mitgeteilt wird, in genauer Analogie erscheint zur sinnlichen Welt oder mehr noch: als sinnliche, materielle Wirkung verstanden wird. Hierin liegt das naturalistische Missverständnis, das auch dann noch wirksam sein kann, wenn man sich dem spiritistischen Konzept fern fühlt. Übersinnliches wird dann mit Sinnlichem gleichgesetzt und Steiner verkommt so zum Lieferanten von »Mitteilungen« aus der »geistigen Welt«.86

      Um dieses Missverständnis zu vermeiden möchte ich dem Konzept des »Hellsehers« dasjenige des »Geistesforschers« gegenüberstellen. Der Forscher, das versteht sich, wird nicht unvermittelt zu seinen Tatsachen kommen wie der Hellseher. Er wird vielmehr einen vermittelten Prozess durchlaufen, in dem deutlichere Erkenntnisse undeutliche ersetzen; der von Revisionen, Geduld, Studium, Hoffnungen und Enttäuschungen durchzogen sein wird; ein Prozess überdies, der sprachlich oder zumindest symbolisch vermittelt ist und der deshalb auch der Deutung bedarf und somit Mehrdeutigkeiten und Perspektivität einschließt. Auch hier spielt als Erfahrungsprinzip die »Schau« eine unverzichtbare Rolle. Aber sie ist unreduzierbar eingebettet in den Forschungsprozess im Sinne der jeweiligen Überschreitung des diskursiven Vorgehens und des Rückbezugs auf dieses. Im Unterschied zum Hellseher arbeitet ein Forscher mit Hypothesen.

      Wenn ich den Typus des Geistesforschers im Folgenden anhand von Steiners Verwendung des Begriffs der Hypothese erläutere, dann treten vor allem drei Konsequenzen in Erscheinung. Zunächst wird die jeweilige und nicht bloß an den Forscher delegierte Erfahrungsbezogenheit aller geisteswissenschaftlichen Aussagen angesprochen: Hypothesen sind keine simplen Mitteilungen, sondern zu bestätigende, nachzuvollziehende und in diesem Sinn problematische Aussagen. Sodann wird ihr unsicherer und provisorischer Status deutlich: Hypothesen sind keine unverrückbaren Grundsätze, sondern immer vorläufige, unsichere und revidierbare Aussagen. Und schließlich wohnt ihnen ein mehr oder weniger subtiler Aufforderungscharakter inne. Er sagt: Überprüfe uns, mache mit uns Erfahrungen, verlasse dich nicht auf uns! Hypothesen sind also auch performativ. Es sind sensible Behauptungen, deren Status sich als unsicher und irritierbar, deren Eigenart sich als erfahrungsoffen und empfänglich zeigt. Im semantischen Feld, das sich für die Übersetzung des Ausdrucks »Hypothese« anbietet, bevorzuge ich damit das Wort Behauptung mit seiner willentlichen Komponente. Die ebenfalls mögliche, eher »apollinische« Rede von Annahme oder unbewiesener Voraussetzung zeigt diese Komponente weniger.87 Sie wird indessen in der zeitgenössischen Literatur in Steiners Umfeld bevorzugt.88 In der dynamischen Willensbezogenheit tritt kontrastiv ein für Steiner spezifischer Zug zum Vorschein.

      In der folgenden Darstellung und Diskussion der Funktion der Hypothese im Werk Steiners werfe ich zunächst einen Blick in die Entstehungsgeschichte der Steiner’schen Theosophie nach der Jahrhundertwende, innerhalb derer der Begriff der Hypothese als hermeneutisches Angebot in Erscheinung tritt. Von da aus verfolge ich einige prägnante Verwendungen des Begriffs in seinem Werk zwischen der frühen Goethe-Edition

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