Der Erzähler Rudolf Steiner. Ulrich Kaiser
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5. Die Beziehung zum Dogma ist eine freie; die Geltung des Dogmas darf insofern nicht vorausgesetzt werden.
6. Es gibt im Prinzip keine esoterische Form; alle Ausdrucksformen sind bereits exoterisch. Von daher und aus Punkt 4 ergibt sich, dass das Verhältnis von Denken und symbolischem Gewand demjenigen von Esoterik und Exoterik entspricht, die damit notwendig aufeinander bezogen bleiben. Esoterik und Exoterik sind ineinander verwunden.
7. Esoterik wird nicht institutionell verstanden, sondern individuell und persönlich, wie bereits 1892 in der Hübbe-Schleiden-Rezension: »Vertiefung in sein Inneres« (GA 30, 511). Sie, die persönliche Vertiefung, ist der Angelpunkt, nicht die Institution.
Gandhi und das Motto der Theosophischen Gesellschaft
Mit dem wohl aus dem »Mahabharata« stammenden Motto »Keine Religion höher als die Wahrheit«59 geben die Vertreter der 1875 begründeten Theosophischen Gesellschaft, an die Steiner anschließt, nicht nur ihrer kosmopolitischen Haltung Ausdruck. Sie formulieren zugleich einen Grundsatz, demgemäß jede Lehrmeinung einer bestimmten Konfession überschreitbar sei auf eine (?) Wahrheit hin, die allen Religionen zugrunde liege bzw. sich in ihnen finde. Damit wird Wahrheit zu einem Gegenbegriff von Dogma (als Lehrmeinung einer Konfession), allerdings nicht in der Form des Gegensatzes, 60 sondern im Sinn der überschreitenden Tendenz auf ein Höherstehendes hin, das auch wiederum ein Vermittelndes sein muss. Die Religionen in diesem Sinn enthalten zwar Wahrheit, aber sie verkörpern sie nicht in ausschließlicher Form; demnach ist Wahrheit immer mehr oder noch etwas anderes als sie. Wir finden uns in einer ähnlichen begrifflichen Konstellation wieder wie in dem Verhältnis von Bild und Sache, Hülle und Wesen, Exoterik und Esoterik, Dogma und eigener Erfahrung, die zwar wie Wahrheit und Wahrhaftigkeit61 unterschieden werden müssen, aber nicht ohne einander existieren.
Offensichtlich spielt dieses Motto im Denken des charismatischen indischen Aktivisten der Gewaltlosigkeit und Freiheitskämpfers Mohandas Karamchand Gandhi (1869–1948) eine initiale Rolle. Seine Lehre von (der) »Wahrheit« (sanskr. Satya) orientiert sich an dem genannten Motto und spiegelt dessen Formulierungen wieder.62 Gandhi selber war mit der Theosophie seit seiner Studienzeit in England wohl vertraut. Biographisch hatte ihm die Theosophie den Wert der eigenen hinduistischen Tradition erkennen lassen. Seine Einstellung zu den Religionen zeigt sich in der Folge in ausgesprochener Toleranz. »Für mich sind alle Hauptreligionen in dem Sinn einander gleich, dass sie alle wahr sind.«63 Ähnlich hieß es bereits bei Blavatsky: »Es … kann nur eine absolute Wahrheit im Kosmos geben … wir wissen: wenn sie absolut ist, so muss sie auch allgegenwärtig und universal sein; und in diesem Fall muss sie jeder Welt-Religion zugrunde liegen … «64 An den nachbarschaftlichen Formulierungen lässt sich freilich auch erkennen, dass zwischen Toleranz und dem Überlegenheitsanspruch auf »absolute Wahrheit« nur eine schmale Grenze gezogen ist. Absolute Ansprüche machen, insofern sie Wahrheit oder Wahrheiten verdinglichen (s.o. Fichte und Schelling), tendenziell intolerant. Mit dem Anspruch auf absolute Wahrheit entsteht eine Dogmatisierungswirkung. Das gilt selbst, wenn nicht ein ›Besitz‹ dieser Wahrheit, nur deren ›Kenntnis‹ in Anspruch genommen wird. Vermieden wird diese Wirkung, wie wir schon seit Lessing wissen, wenn von einem dynamischen Bezug auf Wahrheit, konkret von Wahrhaftigkeit gesprochen und eine entsprechende Haltung kultiviert wird. Das scheint schon der alte Sanskrit-Satz, den das Motto aufgreift, gewusst zu haben: »Satyannasti paro dharmah«. Als beste Übersetzung des Satzes gilt dem Indologen Helmuth von Glasenapp zufolge: »Es gibt keine höhere Pflicht als die Wahrhaftigkeit.«65
Meinung, Wahrhaftigkeit, Forschung
Für seine Zeitschrift »Luzifer-Gnosis« eignet sich nun Steiner das theosophische Motto in der folgenden Form an: »Keine menschliche Einzelmeinung stehe über der Erforschung der Wahrheit.«66 Damit greift Steiner die Form des Mottos der Theosophischen Gesellschaft auf, aber er profanisiert es, indem er an die Stelle der Religion die Meinung setzt. Und er ersetzt auf der anderen Seite des Satzes die Wahrheit durch die Erforschung der Wahrheit. Nicht nur hat er so eine Dynamisierung vorgenommen, einen »Prozess« auf etwas hin (Erforschung) anstelle des bloßen »Ziels« (der Wahrheit) gesetzt, er hat diesem Prozess als »Erforschung« auch eine Gediegenheit verliehen, welche die bloße »Suche« nach Wahrheit zum Beispiel nicht hätte. Gleichzeitig, so scheint es, evoziert er ein Muster, das am Beginn der abendländischen Rationalität steht, nämlich die Unterscheidung zwischen der Doxa (δόξα) als bloßer »Meinung« und der Episteme (ἐπιστήμη) als Erkenntnis, Wissenschaft oder Erforschung.67 Damit nimmt er stillschweigend eine Verschiebung vor vom östlich orientierten weltreligiösen Kontext der Theosophischen Gesellschaft in den philosophischen Kontext der westlichen Tradition, die sich auf das antike Griechenland bezieht. Religion wird zu Forschung, absolute Wahrheit zur Erforschung der Wahrheit.
Auch hier gibt es wiederum die Gefahr der Verdinglichung von Wahrheit (oder dessen, der sie vertritt68) und der Unterschätzung des diskursiven Prinzips der vielen und als solchen anerkannten Meinungen. Faktisch hat Steiner mit seiner Editionspraxis in der Zeitschrift auf das diskursive Prinzip großen Wert gelegt, indem er heterogene Autoren zu Wort kommen ließ. Mit dem Stichwort der »Erforschung« setzt er einen bestimmten Akzent: Forschung (der Prozess) steht über der (festen) Meinung. Und die Autorität von Personen, wie berechtigt sie sein mag, steht nicht über dem Wahrheitsanspruch – im Sinn jenes anderen, verwandten Mottos: »Amicus Plato, sed magis amica veritas.«69 Die Autoritätszuschreibung von Personen bis hin zur Dogmatisierung ihrer Aussagen ist nämlich ein allgemeines Phänomen, auch in Philosophie und Wissenschaften.
Was nun die praktische Konstitution einer gesellschaftlichen Organisation angeht, ist man mit einem solchen antidogmatischen Motto gewissermaßen schlecht beraten. Denn eine gesellschaftliche Form verlangt ein Maß an Festigkeit und Identität, das durch bestimmte Bekenntnisse wie das eines Glaubens an Reinkarnation und Karma oder an die Existenz unsichtbarer Meister festgeschrieben werden könnte. Nun hat sich aber Steiner wie schon die frühen Theosophen solchen Festschreibungen verweigert. Gerade aber weil das Motto keine Festschreibung ist, sondern eine Handlungsanweisung, hängt es von der persönlichen Haltung jeder einzelnen Person ab, ob und inwieweit sie einen undogmatischen, offenen Habitus und eine entsprechende Erkenntnishaltung einnehmen kann und der Grad einer undogmatischen Haltung der Einzelnen wird ebenso von der entsprechenden Kultur in einer Gesellschaft gefördert oder gehemmt. Gleichwohl sind es immer bestimmte Inhalte, diese und nicht jene, die einer Beschäftigung, einem Studium, einer Forschung zugrunde liegen. Das geht nicht ohne Verbindlichkeit. Zugleich aber soll diese Verbindlichkeit, wie ich in der Folge und in diesen Studien insgesamt zeigen möchte, eine möglichst freie sein. Und frei heißt nicht beliebig oder willkürlich. Um ein Motto handelt es sich also, das die Lektüre eines jeden Satzes muss begleiten können.
Die Schwierigkeiten eines solchen Anspruchs auf Offenheit haben Helmut Zander zur Formel eines »Dogmas der Dogmenfreiheit« inspiriert.70 Der besprochenen Fundierungsordnung zwischen Dogmen im Sinne von (inhaltlichen) Lehraussagen und den Formen ihrer (methodischen) Überschreitung und der beschriebenen Aufgabe eines undogmatischen Umgangs damit wird er mit seinen Ausführungen indessen nicht gerecht. Auch konfundiert er in seinem retorsiven Argument die Bedeutungsebenen von Dogma im Sinne einer inhaltlichen Aussage inklusive des Geltungsanspruchs mit der eines Mottos im Sinne einer (regulativen, aber tendenziell offenen und immer prekären) Handlungsanweisung – der Aufforderung zu Beweglichkeit, zur Selbstständigkeit, zur Selbstverantwortung. Motto und Dogma sind nicht das selbe und die beiden Begriffe bewegen sich nicht auf derselben Ebene.
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