Der Erzähler Rudolf Steiner. Ulrich Kaiser

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Der Erzähler Rudolf Steiner - Ulrich Kaiser

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beschriebenen drei spirituellen Erkenntnisstufen »Imagination«, »Inspiration« und »Intuition« das hypothetische Moment erscheint und dass es in diesem subtilen Kontext auch einer Hermeneutik des Irrtums bedarf.

      Ab November 1903 führte Steiner in seiner theosophischen Zeitschrift »Lucifer-Gnosis« die Rubrik Fragen und Antworten ein, in der er auf besondere Nachfragen oder Einwände einging, die sich regten oder die repräsentativ waren. Im Mai-Heft 1905 wurde die Frage des »Personenkultus in der theosophischen Bewegung« aufgegriffen. Personenkult könne nur ein Missverständnis sein, führt Steiner in seiner Antwort aus. Allerdings eine Art graduelles Missverständnis. Denn je weniger bei einem Okkultisten Personenkult zu finden sei, ein umso »besserer« Okkultist sei er (GA 34, 386). Es gebe immer »Mittel und Wege« zu prüfen, was ein Okkultist sagt und damit jeden Personenkult zu vermeiden. In diesem Sinn sei eine okkulte Mitteilung zunächst auch nicht anders denn als Erzählung zu verstehen. Eine Erzählung wird zunächst auf ihre Kohärenz hin verstanden, nicht aber auf ihren Wirklichkeitsgehalt hin geprüft, weil die Vergleichbarkeit der Erfahrung zunächst fehlt. »Derjenige, welcher die Mitteilungen macht, will … nicht anders wirken als ein Erzähler. Er sagt: ich habe dies oder jenes erfahren, oder mir ist von solchen, die es wissen können, dies oder jenes mitgeteilt worden. Ein gesunder, gerader Verstand, eine wahre Empfindung im Zuhörer wird zunächst zuhören, das heißt weder blind glauben noch blind kritisieren« (386).

      Hier ist, anders als in weiteren Passagen der Zeitschrift, nicht der aktiv denkende Nachvollzug angesprochen, sondern das stille, sensible Zuhören, das sich zunächst eines Urteils ganz enthält. Zuhören heißt, das Gehörte nicht sofort durch eine eigene Meinung zu verdrängen, sondern offen für die Geltungsmöglichkeit des Gehörten zu sein. Dem zuhörenden Raum-Geben als Form der Entgegennahme entspricht auf der anderen Seite als Genre die Erzählung. Eine Erzählung ist nicht in erster Linie begrifflich-philosophisch strukturiert, sie wird vielmehr eine in sich zusammenhängende Geschichte entfalten. Auch die Erzählung in diesem Sinn verweist auf einen prüfenden inneren Mitvollzug. Auch sie hat eine Funktion. Sie will im Kontext Steiners nicht auf historische Fakten hinweisen, sondern auf eine Art von Lebenswahrheiten, die durch die Erzählung selber oft erst sichtbar oder denkbar werden. In dieser heuristischen (= Finden machenden, orientierenden) Funktion wird die Erzählung, insofern sie nicht nur gehört, sondern geprüft wird, zur Hypothese.

      Denn auch wenn die erste Form der Rezeption theosophischer Aussagen das dezidierte Anhören sein soll, wird doch die Prüfung nicht endlos aufgeschoben, sie ergibt sich in der Folge. Nach welchem Kriterium aber wird geprüft? Und was für einen Wahrheitsbegriff legt Steiner dabei zugrunde? In der unmittelbaren Fortsetzung des oben angeführten Zitates setzt er ein Verständnis von dem, was wahr sei, bereits voraus: »Das Wahre wirkt einleuchtend und aufklärend, das Falsche stößt zurück und klärt nichts auf. Vom Wahren sagt sich der Zuhörer oder Leser: Ja, durch das, was mir da mitgeteilt wird, kann ich die Tatsachen der Natur und des Lebens begreifen; wenn das aber nicht wahr wäre, was da gesagt wird, bleiben mir diese Tatsachen unverständlich. Dieses Verhalten zu einer Lehre kennt auch die anerkannteste Wissenschaft; man nennt da solche Lehren brauchbare Arbeitshypothesen« (386f.).

      Die Wahrheit theosophischer Sätze zeigt sich, indem sie angesichts der Tatsachen der Natur und des Lebens sich als plausibel und aufschlussreich erweist, die Falschheit aber darin, dass das nicht so ist. Dieser Wahrheitsbegriff Steiners ist stark empfindungsorientiert (»stößt zurück«). Vor allem ist er nicht primär wissenschaftlich, sondern lebenspraktisch gedacht. Steiner formuliert hier erneut jene pragmatische Einstellung gegenüber den Wissenschaften, die er wenige Jahre zuvor in den Diskussionen im Giordano Bruno-Bund, jenem naturwissenschaftlich-monistischen Debattierklub der Jahrhundertwende, vertreten hatte. Die »Frage nach der Gültigkeit der Weltanschauung«, resümiert er dort, sei »vor dem Forum des Lebens, nicht vor dem Forum der Erkenntnis zu entscheiden« (GA 51, 310). So wundert es nicht, dass Steiner das Wort von den Arbeitshypothesen in unserem Kontext auch sogleich ausweitet in das von den »brauchbaren Lebenshypothesen« (GA 34, 387).

      In seinen Erläuterungen zu Goethes naturwissenschaftlichen Schriften definiert Steiner 1887 in Goethes Sinn: »Eine Hypothese ist eine Annahme, die wir machen und von deren Wahrheit wir uns nicht direkt, sondern nur durch ihre Wirkungen überzeugen können« (Kürschner II, S. XLIII). Das Kriterium, das zur Überzeugung führt, ist die eigene Wahrnehmung einer Wirkung bzw. die Wirkung einer Wahrnehmung. Steiner erläutert: »Die Hypothese kann zwar nicht Wahrgenommenes, sie muss aber Wahrnehmbares voraussetzen … Nur Hypothesen, die aufhören können, es zu sein, haben eine Berechtigung.« (ebd.; Hervorhebungen im Original) – In diesem Sinn findet sich der Begriff zehn Jahre später in Steiners Schrift »Goethes Weltanschauung« von 1897 (GA 6, 75) sowie noch im Oktober 1920 in einem Vortrag vor Medizinern (GA 314, 14 f.).89 Der Begriff wird also in den verschiedenen Phasen von Steiners Werk einheitlich verwendet. Hypothesen sind so verstanden provisorische Annahmen, die ihrer Intention nach sowohl etwas verständlich machen sollen als auch in dieser Funktion auf zu machende eigene Erfahrung verweisen und dafür einen Orientierungsrahmen vorgeben.

      Auch im späteren Vortragswerk wird dieses Konzept der Hypothese verschiedentlich aufgegriffen und genau bedeutungsgleich im Feld der Esoterik verwendet. Damit wird er von der sinnlichen auf die übersinnliche Erfahrung übertragen und findet sich in Erfahrungsfeldern wieder, welche aber in dieser Hinsicht strukturell gleich sind.90 Ich nenne zwei Beispiele. Am 14. Dezember 1911 hat die Hypothese in einem öffentlichen Vortrag in Berlin ähnlich wie in dem Text aus »Luzifer-Gnosis« Vermittlungsfunktion: »Die Zuhörer aber, welche sich auf einen solchen Boden (der geisteswissenschaftlichen Methode, U.K.) nicht stellen oder nicht stellen können, bitte ich, das, was über die wahre Geschichte gesagt wird, als eine Hypothese hinzunehmen, die eben der Prüfung unterliegt« (GA 61, 196, Wiederaufnahme des Motivs 218 f.). Am 13. Dezember 1911, dem Vortag, hieß es bereits in ähnlich vermittelnder Funktion, jetzt aber für esoterische Schüler gesprochen: »Wir nehmen das wenigstens theoretisch an, und es bleibt so für uns mehr oder weniger Hypothese. Wenn wir aber mit einer esoterischen Schulung anfangen, dann soll aus diesem Annehmen einer bloßen Hypothese immer mehr Wahrheit werden« (GA 266/II, 272).

      Umgekehrt kritisiert Steiner ein Verständnis von »Hypothesen«, durch welches anstelle der Wahrnehmbarkeit Modelle substruiert und damit Erkenntnisgrenzen festgeschrieben werden und jenseits dieser Grenzen Sinnliches postuliert wird. Im pejorativen Sinn spricht Steiner von Hypothesen dann, wenn sie nicht wahrnehmungsbezogen, sondern bloß theoretisch91 oder modellhaft92 verwendet werden. Weniger ist es der provisorische und unsichere Charakter von Hypothesen, den er kritisiert, als die Erfahrungsferne naturwissenschaftlicher Modelle.93 Steiner weiß in diesem Sinn naturwissenschaftliche Hypothesen als solche einzuordnen und zu würdigen. Allerdings: Sowohl im Kontext der Goethe’schen Naturwissenschaft als auch in dem der Steiner’schen Esoterik gilt im Prinzip, dass die Wahrnehmungsfähigkeit auf »innere Entwicklung« (GA 34, 391) setzt. »Nicht um ›Beweise‹«, so heißt es wiederum in einem frühen theosophischen Text Steiners, »sondern um ›Weckung von Kräften‹ handelt es sich in der Theosophie« (GA 34, 403). Damit führt Steiner einen Gedanken, den er bei Goethe kennengelernt hat, in die Theosophie ein: »Jeder neue Gegenstand, wohl beschaut, schließt ein neues Organ in uns auf« (zitiert nach Kürschner II, S. 32). In diesem Sinne mag man eine Hypothese die Aufmerksamkeit auf einen Gegenstand nennen und den so verstandenen Gegenstand – die umgekehrte Hypothese.94

      Doch gehen wir nochmals einen Schritt zurück. Das Beispiel

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