Der Erzähler Rudolf Steiner. Ulrich Kaiser
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Philosophiehistorisch bekommt das Wortpaar »Dogma – dogmatisch« mit Kants kritischer Wende ein besonderes Gewicht. Damit nämlich verabschiedet Kant sich in einem Gestus der »Aufklärung« von alten dogmatischen, d. h. ungeprüften Überzeugungen und vergleicht diesen Vorgang rückblickend mit dem Prozess des Erwachens aus »dogmatischem Schlummer«.44 Einerseits beschreibt Kant mit seinen Überlegungen zu einer schlummernddogmatischen Haltung und dem Aufwachen durch Kritik eine, nämlich seine historische Situation. Aber gleichwohl beinhaltet das Moment der Aufklärung eine prinzipielle, wohl immer geltende Situation. Denn insofern wir im Prinzip jederzeit zu neuen Einsichten »erwachen« können, sind wir, potenziell auch immer von dogmatischen Überzeugungen umgeben, deren dogmatischen Charakter wir allerdings erst dann bemerken, wenn wir eine kritische Prüfungen, einen Moment des Erwachens, vollziehen und ihn als solchen erkennen.45 Insofern steht das denkerische, aufklärerische, kritische Wachwerden der dogmatischen, unhinterfragten, bloß geglaubten Meinung gegenüber. Dogma ist das Gegenteil von Kritik.
Aber bei Kant hat das Wort keine bloß pejorative Funktion. Viel mehr noch ist es Terminus für eine philosophische Methode, die nicht von der Sinneserfahrung ausgeht, sondern von nicht-sinnlichen Begriffen und deren Beziehungen.46 Kant vergleicht die dogmatische Methode insofern mit der Mathematik, setzt sie aber nicht mit ihr gleich. Für unseren Zusammenhang heißt das: Ein dogmatisches Verfahren in »reinen« Begriffen kann sehr wohl kritisch und selbstverantwortet sein.
Selbstverantwortung und dogmatische Methode
Im Anschluss an Kant führt Fichte aus, dass es überhaupt nur zwei philosophische Systeme gebe, das dogmatische und das kritische. Das kritische sei dem dogmatischen darin überlegen, dass es dem Ich nicht »völlig willkürlich« einen Begriff des Dinges »als de(n) schlechthin höchste(n)« entgegensetze, sondern vom Ich als dem kritischen Prinzip einer selbstverantworteten Philosophie ausgehe.47 Die Verantwortung des Denkens also, eine Selbstverständlichkeit, liegt beim denkenden Ich, nicht beim gedachten Ding oder Satz. Im Anschluss wiederum an Fichte bringt Schelling diesen Gedanken in Fluss, wenn er als einen Dogmatiker denjenigen bestimmt, »der alles als ursprünglich außer uns vorhanden (und nicht als aus uns werdend und entspringend) voraussetzt«48 und bestimmt damit umgekehrt als eine kritische Philosophie diejenige, die auf das Werden und Entspringen des Denkens in uns achtet und dem systematisch den gebührenden Stellenwert zuweist.
So können wir als Dogma etwas uns von außen Gegebenes (etwas Gesagtes, eine Behauptung, eine Sinneswahrnehmung, eine Offenbarung etc.) verstehen, als Dogmatismus die Absolutsetzung dieses Gegebenen »ohne Einsicht in die Welt, der die Behauptungen entspringen«, 49 welche bei Schelling wie bei Steiner im eigenen Denken zu finden ist. In dieser Konstellation verweist ein Dogma als etwas Vorhandenes immer zurück bzw. weiter auf eine Prozessualität des Werdens und Entspringens, die aber im »Inneren« – und das heißt auch: selbstverantwortet – zu finden ist. Das Verhältnis von Dogma und Kritik entspricht damit auch der Qualität von Gewordenem und Werdendem. Des Weiteren können in diesem Kontext als Dogmen alle Begriffe verstanden werden, die nicht sinnesbezogen sind. Und: Auf Dogmen können wir – auf diesem allgemeinen begrifflichen Niveau – genauso wenig verzichten wie auf vieles andere, was uns von außen zukommt. Wichtig aber bleibt im Sinn der idealistischen Philosophie der Verweis auf den inneren Vollzug und die Fundierungsordnung: das innere, tätige Werden und Entspringen hat Vorrang. – Als Dogmen im Sinne Steiners sind demgemäß nicht-sinnlich gemeinte begriffliche, symbolische oder narrative Aussagen zu verstehen. Nun scheint es aber Unterschiede zu geben, je nachdem, welche Ausdrucksform im Vordergrund steht.
Begriffssprache gegenüber »blindem Dogmenglauben«
Vom Januar bis zum Mai 1904 veröffentlicht Steiner in seiner theosophischen Zeitschrift »Luzifer-Gnosis« Schriften aus dem Nachlass des Philosophen Paul Asmus (1843–1876), die er von dessen Schwester Martha Asmus (1844–1909) erhalten hatte.50 Steiner war mit Martha Asmus gut befreundet. Beide nahmen Leitungsfunktionen im Giordano Bruno-Bund wahr und sie gehörte zu den wenigen, die Steiner auch nach jenem denkwürdigen kontroversen Vortrag, in dem er die scholastische Philosophie als Monismus darstellte – den Atheismus seines Umfeldes also mit der Philosophie der katholischen Kirche in Verbindung brachte – in Schutz nahmen.51 Die Texte des idealistischen Philosophen Paul Asmus nun erschienen genau in dem Zeitraum in Steiners Haus-Zeitschrift, in dem er seine ersten theosophischen Vorträge zu esoterischen Themen wie »Atlantis« und »Akasha-Chronik« gehalten hatte und kurz bevor er darüber in der Zeitschrift in großen Teilen in narrativem Stil zu publizieren begann.
Steiner legte seinem theosophischen Publikum die Schriften dieses Philosophen sehr ans Herz, weil das von ihm praktizierte Denken nicht nur Grundlage spiritueller Erkenntnis sei, sondern vor allem auch zwei typische theosophische Gefahren vermeiden helfe:
»Solches Denken allein kann innere, selbstsichere Festigkeit und Forschergewissheit geben, die den Theosophen zwischen der Skylla einer nebelhaften Schwärmerei und der Charybdis eines blinden Dogmenglaubens hindurchleiten in die hellen Lichthallen der Weisheit« (GA 34, 492).
Mit dem hehren Pathos auf die bestimmt von allen Theosophen angestrebten »Lichthallen der Weisheit« verbindet sich der pragmatisch-aufklärerische Duktus Steiners, der an die eigenständige und selbstständige Erkenntnis appelliert, vor Gefahren der »nebelhaften Schwärmerei« und des »blinden Dogmenglaubens« warnt und eine bodenständige Arbeitshaltung empfiehlt:
»Heute fordert das Denken Bequemlichkeit, und zum Verstehen von Paul Asmus’ Ideen ist volle arbeitende Hingabe erforderlich. Doch der Theosoph weiß, dass nicht die Forschung sich nach dem Menschen, sondern der Mensch sich nach der Forschung zu richten habe, und dass nur volle Hingabe an ihre Forderungen zur Erkenntnis führen kann« (ebd., 489, Hervorhebungen im Original).
Steiner führt das abstrakte, kritische, begriffliche Denken sogar drastisch als eine notwendige Bedingung für Theosophie an:
»Wer dazu nicht gelangen kann, bleibt entweder in den Fesseln einer trüben Mystik hängen, […]; oder aber er muss sich mit einem bloßen Glauben an die theosophischen Dogmen begnügen.« (ebd., 492, Hervorhebungen im Original)
Die »Forderung nach Erkenntnis« wird angesichts der ganz anders wirkenden Inhalte, die neben diesen philosophischen Texten noch in der Zeitschrift stehen, vor eine Probe gestellt. Wie verhält sie sich gegenüber »Mitteilungen« über »Unsere atlantischen Vorfahren«, die weitgehend narrativ gehalten sind und die um 1900 naturwissenschaftlich noch recht unscharf bekannte Vorgeschichte in einer ganz eigenen Bilderwelt und Terminologie vorstellen? Angesichts der publizistischen Vorgehensweise Steiners entsteht der Eindruck, begriffliche und narrative Darstellungsweisen sollen sich gegenseitig ergänzen oder »durchwachsen«. Steiner baut offenbar auf ein Wechselverhältnis.
»Wann wird das symbolische Gewand fallen?« (Martha Asmus)
Martha Asmus, die kritische Denkerin, hat Steiners Veröffentlichungen ab Juni 1904 wohl kaum noch verfolgt. Aber sie dankt ihm sehr bald (am 6. Februar 1904) lebhaft dafür, dass er sich ihres Bruders Werk in der Zeitschrift »Luzifer-Gnosis« angenommen hat. Und der Dank ist ihr Anlass, kritisch auf die Diskrepanz hinzuweisen, die ihr zwischen dem philosophischen Duktus ihres Bruders und dem übrigen Inhalt der Zeitschrift (vorwiegend aus Steiners Feder) auffällt. Es ist die symbolische Ausdrucksweise, an der sie sich stößt und die sie auch im Widerspruch zu dem sieht, was sie von Steiner sonst kennt. Sie erinnert an ein Gespräch, das sie beide während einer Bahnfahrt über die maßgeblichen Frauen der Theosophischen Gesellschaft, Elena Petrowna Blavatsky (1831–1891) und Annie Besant (1847–1933) gehabt hatten, in dem es um deren symbolische Ausdrucksweise gegangen war. Steiner hatte diese Ausdrucksweise nach Asmus’ Worten damals so erklärt, dass »diese Frauen alle solche Lehren, die gegen die Wissenschaft stritten