Der Himmel ist ein kleiner Kreis. Carolina Schutti

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Der Himmel ist ein kleiner Kreis - Carolina Schutti

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samtig schimmernde Wasseroberfläche an windstillen Tagen, die sich aber nie bis zum Horizont zieht, sondern immer irgendwo aufgeworfen wird, sich unruhig kräuselt, an einem der Ufer oder irgendwo in der Mitte, manchmal passiert es, dass sich binnen Minuten hohe Wellen bilden, dass man sich in einem Augenblick noch in einem Bilderbuch wähnt, müde die Position der Angelruten prüft, dem sanften Plätschern am Bootsrumpf lauscht, und plötzlich schlägt das Wasser über den Rand, man muss sich festhalten, die Angeln einholen, schnell, schnell, den kleinen Motor anwerfen, das Blinken der Sturmwarnung vor Augen, dunkle Wolken über dem Kopf, und manchmal hat man den Sonnenschein im Rücken und dort sind Leute auf Surfbrettern und Luftmatratzen, die bis zum Abend keinen Regentropfen abbekommen werden. Als würden willkürlich unsichtbare Wände eingezogen, Wetterscheiden mitten am See.

      Mark trägt das Wasser auf den Beinen, nicht den See, sondern das Meer, Wellen und ein Segelschiff, zerklüftete Felslandschaften, Farne, Schlingkraut, das Skelett einer Schlange, und als mein Blick auf diesen Bildern ruht, als ich darüber staune, wie Licht und Schatten auf den Felsen liegen, wie wuchtig die Gischt an die Küste schlägt, wie das Schiff sich gegen die Wellen stemmt, wie man zu sehen glaubt, dass die unteren Decks längst mit Wasser gefüllt sind und die Matrosen durchnässt, heiser vom Schreien, entkräftet, gegen den Sturm kämpfen, da fällt mir plötzlich wieder ein, dass auch in Tattoofarben Schellack ist, dass der Instrumentenbauer davon erzählt hat, als jemand ein Problem damit hatte, den Lack aufzutragen, weil bei der Herstellung vielleicht auch einige Läuse gestorben seien, Lauslarven eigentlich, noch nicht einmal geschlüpft, aus Versehen mit den leeren Kokons von den Zweigen abgestreift, niemand könne alle Kokons überprüfen, und da hat er gesagt, was meinen Sie, was in Ihrer Tattoofarbe drinnen ist, und so still war es plötzlich im Raum, weil wahrscheinlich jeder gedacht hat, dass man ein Tattoo nicht ausspucken kann wie ein Stück Wurst.

      Ich werde nichts sagen, obwohl Mark Wurst isst, nur eben keinen Fisch und keine Kohlsprossen, wegen der Maden.

      Ina benötigt eine Stunde für den Rundgang, wenn sie sich beeilt. Von 6.00 bis 7.00, von 12.00 bis 13.00, von 18.00 bis 19.00 und einmal um Mitternacht. Das Logbuch liegt aufgeschlagen auf dem Tisch, die Eintragungen bleiben seit Wochen dieselben, sie schreibt in ihrer schönsten Schrift.

      Eine schöne Schrift sei das Wichtigste, hat Boris gesagt, und ein gutes Auge.

      Ein gutes Auge wofür?

      Rauchsäulen, Vorkommnisse.

      Sie hält nach Rauchsäulen Ausschau, nach Vorkommnissen. Klettert auf den ersten Wachturm, blickt von oben in alle Himmelsrichtungen: Wald, Wald, Gelände, Wald.

      Sie geht über den verbrannten Flecken Erde, am verkohlten Gerüst vorbei, klettert auf den zweiten Wachturm. Sieht Wald, Gelände, Wald, Wald. Verweilt. Lässt den Blick über die Werkshalle schweifen, über die Wohnbaracke, die beiden Schuppen. Über den zu Rollen gewickelten Stacheldraht.

      Keine Rauchsäulen, keine Vorkommnisse, kein Regen, kein Wind.

      Sie geht durch knisternden, braunen Farn auf die dichten Baumreihen zu. Brombeerranken zerren an der Hose, trockene Äste knacken bei jedem ihrer Schritte, zwischen den Schritten lauscht sie in den Wald hinein. Bleibt stehen. Spitzt die Ohren. Geht weiter bis zum Eingang des verfallenen Stollens. Öffnet die schwere Abdeckung, schaltet die Taschenlampe ein: Bretter, Steine, gelblicher Lehm, ein Haufen aus morschen Balken, verbogene Reste einer kurzen Leiter aus Metall. Zwanzig Schritte kann sie machen, höchstens, die Leiter steckt in verrutschter Erde, da, wo einmal ein Loch in die Tiefe geführt haben muss. Auch hier: Keine Vorkommnisse. Kein Wassereintritt. Nichts.

      Dann die beiden Schuppen, einer leer, der andere gefüllt mit Fässern, Kanistern und altem Gerät. Alles an seinem Platz. Keine Auffälligkeiten, keine Änderung.

      Nur das Tor bereitet ihr Sorge, die Kette ist lose um die Streben gewickelt, es gibt kein Schloss, es hat noch nie eines gegeben. Es sieht nicht so aus, als sei die Kette bewegt worden, doch Beweis hat sie keinen. Die Schneise, die vom Gelände wegführt, ist kaum noch zu erkennen, Strauchwerk und Gestrüpp neigen sich dem schmalen, gerodeten Streifen zu. Sie hält nach geknickten Ästen Ausschau, nach Spuren, nach Abdrücken von Pfoten oder von Schuhen. Hört Boris’ Stimme, als stünde er neben ihr:

      Hier muss es sein. Komm!

      Sie waren am Ende der Schotterstraße aus dem Geländewagen ausgestiegen, zu Fuß der Schneise gefolgt, in einer kleinen Senke dem knietiefen Schlamm ausgewichen. Nach wenigen Minuten standen sie vor dem Tor, zu beiden Seiten reihten sich mannshohe Stacheldrahtrollen aneinander, waren eingebettet im Dickicht, verloren sich im Wald. Boris griff an die Kette, es folgte ein Jauchzen, freudig, laut, sodass sie stutzig wurde, warum freut er sich so?, sollte es nicht ein Schloss geben, sollte er nicht den Schlüssel dazu haben, wenn man ihnen schon diese Arbeit angeboten hat?

      Sie folgte Boris auf das Gelände, dort entdeckten sie das zweistöckige Haus, die wellblechverkleidete Halle mit ihren alten Maschinen, hohen Fenstern und einem Boden aus festgepresstem Kies. Wie ein aufgeregtes Kind lief Boris hin und her, zog Ina nach kurzer Zeit wieder ins Freie, packte sie am Arm. Ina schüttelte seinen Griff ab, nun ging sie voraus, zurück zum Wagen, hielt unterwegs die Augen offen, bückte sich nach dicken Ästen, die sie in die Schlammgrube legten, um darüber fahren zu können, um nicht doch noch auf den allerletzten Metern zu scheitern.

      Hinausgehen, nach dem Rechten sehen, sich auf den Wachturm stellen und in alle Richtungen blicken, auf Rauchsäulen achten, auf Motorengeräusche lauschen, den Deckel des Brunnens heben, prüfen, ob der Stollen gesichert ist, der Generator bereit, die Kanister vollzählig.

      Das ist die Abmachung. Dafür wird Boris sie zur Winterstraße bringen, sobald es Zeit dafür ist. Es habe keinen Sinn, stur weiter durch die sibirische Einöde zu fahren, um dann früher oder später im Morast steckenzubleiben, sie müsse ohnehin warten, bis die Sümpfe frieren, da könne sie doch für wenige Monate seine Gehilfin sein. Jeder Wächter habe einen Assistenten, er habe noch keinen.

      Komm schon, was sind schon zwei Monate oder drei: Ein Handschlag, ein Vertrag. Unleserliche Buchstaben, ein Stempel, Boris’ Unterschrift und, ganz unten am Rand, winzig und stark nach rechts geneigt, die ihre.

      Ob sie Geld habe für Vorräte und zwei Tickets für die Fähre?, sie werde alles zurückbekommen, selbstverständlich, und guten Lohn dazu, die Assistenz sei gut bezahlt, ausgezeichnet sogar, wenn man bedenke, dass man nur wachsam sein und Notizen machen müsse. Es kämen auch keine Touristen, nicht wie etwa in Pyramiden, das täglich besichtigt werde und dementsprechend in Stand gehalten werden müsse. Das sei dort nämlich kein Vergnügen, man müsse nicht nur die Runden drehen, sondern Fragen beantworten und an Schlechtwettertagen putzen und reparieren und abdichten und ankleben und sogar schweißen.

      Pyramiden?

      Pyramiden. Minenstadt auf Spitzbergen. Zuerst Luxus, dann nichts als Ruinen, zuerst Orchester und frische Salatköpfe in Glashäusern, dann tote Katzen überall. Dass das kein Honigschlecken sei, das Vertreiben von Neugierigen und Vandalen, von Räubern und Forschern ohne Papiere, von Abenteurern und Verschwörern, das Instandhalten der verlassenen Räume, der Gästezimmer, der Küchen, Bäder, das wisse er von seinem Cousin, alle Details wisse er, obwohl er selbst noch nie dort gewesen sei, geschweige denn dort gearbeitet habe. Aber der Cousin könne so gut erzählen, da spare man sich die Reise. Sogar Geruch und Gestank und eine schiefe Türklinke erzählt er dir und in welcher Geschwindigkeit Staub auf die Möbel fällt. An der Fallgeschwindigkeit von Staub könne man ablesen, was man einatmet: Pollen oder Sand oder trockene Mäusekacke. In Pyramiden sei es in erster Linie Sand. Der müsse von den Möbeln entfernt und aus der Turnhalle gekehrt werden, um den Glanz der alten Zeiten sichtbar zu machen und ohne den die unverhofft sprudelnde Geldquelle so schnell wieder versiegen würde, wie man einst die Mineneingänge zugeschüttet habe.

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