Der Himmel ist ein kleiner Kreis. Carolina Schutti
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Читать онлайн книгу Der Himmel ist ein kleiner Kreis - Carolina Schutti страница 5
Binnen weniger Stunden verwandelt sich das morastige Land in eine Schneelandschaft, Erde und Himmel lassen sich nicht länger voneinander unterscheiden: Schnee, der aus den Wolken fällt, und Schnee, der vom Wind in die Luft geblasen wird, ein einziger Wirbel, in dem nach Stunden die Erde gewinnt, weil sie die Schneemassen festhält, sie dem Himmel entreißt. Im Winter ist das Fortkommen einfach, Eis und Schnee glätten das Land, legen sich über seine Adern wie eine zweite Haut. Wenn es friert, verlässt man den Wald und folgt den abgeblasenen Hügelrücken, das Eis trägt einen über die tiefen Sümpfe, über die breiten Wasserläufe, über die während der Sommermonate reißenden Flüsse mit ihren Stromschnellen, Walzen und Strudeln, die nun gezähmt und unter dickem Eis verborgen sind. Eis, auf dem bald schon die ersten Lastwagen fahren, eine Strecke, die Unerschrockenen eine Verbindung zwischen einsamen Städten bietet: Städten, in denen die Straßen bei den jeweils letzten Häusern einfach enden, Städten ohne Häfen, Städten umringt von nichts als endlosem Land.
Was willst du mit der Winterstraße.
Boris’ Stimme in ihrem Kopf.
Alles, alles will ich. Eine Raststation aufbauen.
Du wirst verrückt dort. Minus 50 Grad und Whiteouts jeden Tag, sodass du keine Ahnung hast, wo oben und wo unten ist, und du bist so abgeschnitten von der Welt, dass du nicht mehr weißt, wie deine Mutter heißt.
Das wisse sie ohnehin nicht, das habe sie nie gewusst.
Was soll Boris darauf sagen. Am besten nichts.
Auf der Winterstraße lassen die Lastwagenfahrer die Tür offen, damit sie jederzeit hinausspringen können, wenn das Fahrzeug unkontrollierbar ins Rutschen gerät. Die Zigarette zwischen den Lippen bleibt unangezündet. Schrittgeschwindigkeit. Der Fuß so zart auf dem Gaspedal, dass es wehtut, der Magen ein schwerer Klumpen, die Zunge klebt am Gaumen, der Schweiß beginnt zu stinken. Die Nerven sind wie Antennen, die jede Regung der Reifen aufnehmen, jede Bewegung des Schwerfahrzeugs, die Muskeln sind hart vor Anspannung, der Rücken gerade wie ein Stock. Die Hände schwarz von Motoröl und Straßenschmutz, erstaunlich sacht auf dem Lenkrad ruhend: Kommt Gewalt ins Spiel, gewinnt die Straße in jedem Fall.
Die Sonne brennt vom Himmel, unbewegt steht der Wald am Rand der Lichtung wie eine Mauer, die das Gelände von der Wildnis trennt. Kein Windhauch ist zu spüren, kein Laut ist zu hören außer dem Schlagen der Axt, rhythmisch, beständig. Ina bearbeitet die verkohlten Reste des Gerüsts, das schwarze Gestrüpp darunter beschreibt einen Kreis, als wäre der Umfang des Brandes von vornherein festgelegt gewesen. Aufstiebende, hellgraue Asche steht wie Nebel in der flirrend heißen Luft, sie hält kurz inne, um das feuchte Tuch über ihrem Mund zurechtzuziehen, sich den Schweiß aus dem Gesicht zu wischen. Sie hat nichts gegen den Schweiß, nichts gegen die Schwere in den Armen, die ihre Arbeit zunehmend mühsam macht: Sie genießt ihr Tun, Schlag um Schlag kommt sie ihrem Ziel näher. Vom Gerüst ist kaum noch etwas übrig, sie hat die verwendbaren Balken zu Brennholz gehackt und die verkohlten auf einen Haufen geworfen. Solange die Axt in Bewegung ist, solange sie sich nach den Holzscheiten bückt, solange ihr der Schweiß über den Rücken rinnt, vergisst sie Boris. Vergisst, nachzurechnen, wie lange die paar Tage schon her sind, die er wegbleiben wollte, um die fehlenden Papiere zu holen. Vergisst, sich zu fragen, wie lange die Vorräte reichen müssen. Und vor allem: wann endlich der Winter kommt.
Der Brandgeruch hält sich hartnäckig in der Luft. Die Balken, die sie zerhackt, sind von unterschiedlicher Härte, von unterschiedlichem Holz. Einige zerfallen bei bloßer Berührung, andere scheinen nahezu unversehrt. Von den Gerüsten gibt es viele, eins dem anderen gleich, sie stehen über das gesamte Gelände verteilt, an einigen ranken gelbliche Gurken, die meisten sind von Brombeeren und braunem Farn umringt. Ihren Zweck hat auch Boris nicht erklären können, für irgendwelche Planen vielleicht oder für Tierhäute, für Schläuche, für die Gurken. Sechzehn übertrieben dicke Pfosten?, zwei Meter hoch, verbunden mit dünneren Balken und so stabil, dass man auf ihnen gehen könnte? Boris nimmt es achselzuckend hin, sie fragt nicht weiter, Gerüste eben zwischen Wachtürmen und Stacheldraht.
Die Nacht, als er schreiend an ihr Bett kam, Los!, steh auf!, steh auf! Wie sie hinter ihm in die Dunkelheit rannte, wie das Feuer zwischen den beiden Wachtürmen aufloderte, wie die Funken flogen, wie sie Angst hatte, binnen Minuten könnte alles in Flammen stehen.
Ein sinnloses Unterfangen, mit zwei Eimern Wasser zu holen, hundert Meter hin und hundert Meter zurück. Sie fiel hin, schlug schmerzhaft auf, Boris drängte trotzdem fluchend zum Weitermachen, Los!, steh auf!, steh auf!, und ihr fiel erst später auf, wie selten er selbst die Strecke gelaufen, wie oft er hingegen sie zur Eile angetrieben hatte. Das Geräusch der Flammen, ihr unruhiges Licht, die Farbe, die sich nach und nach abdunkelte. Irgendwann kam der Brand von selbst zum Erliegen, hustend lehnten sie an der Mauer der Werkshalle, die leeren Wassereimer neben sich, Gesichter und Arme ascheverschmiert, sie mit blutigen Knien, Boris mit sachte wippendem Kopf.
Am nächsten Morgen entwarf Boris den Eintrag für das Logbuch, sagte ihn ihr vor:
3.08, Gerüst No. 3 in Flammen, Löschversuche erfolglos abgebrochen. Abwechselnd Feuerwache, Überwachung der Glutnester bis 6.30. 8.31 Brand aus. Vermutete Ursache: Blitzschlag.
Ina hatte keinen Donner gehört, hatte keinen Blitz gesehen, verzog fragend das Gesicht.
Es gibt auch Blitzschlag ohne Gewitter, hier gibt es alles, hier musst du auf der Hut sein.
Und der einsame, glühende Punkt in den Nächten, einmal wenige Meter vom Haus entfernt, einmal zwischen den Baumstümpfen, einmal auf dem Wachturm? Sie sagte nichts, wusch sich Gesicht und Hände, holte das Buch.
Vier Zeilen in ihrer schönsten Schrift, Boris blickte ihr über die Schulter, diktierte ihr Buchstabe für Buchstabe.
Im Grunde war es egal, wem würde so ein altes Gerüst denn abgehen, aber Boris unterstrich: Löschversuche erfolglos.
Setzte seine Unterschrift unter den Eintrag, eine übermäßig große, unleserliche Wellenlinie. Und mit einem Mal war es nicht egal, auf einmal fühlte es sich an, als stünde sie in seiner Schuld, als decke Boris mit seiner Unterschrift ihr Unvermögen, ihre Aufgabe ordentlich zu erfüllen, als zeige er ihr anhand dieses Zwischenfalles, wie groß sein Herz sei, das Herz des Wächters, nachsichtig seiner Assistenz gegenüber, die sich fortan mehr darum bemühen müsse, Vorfälle wie diese zu verhindern.
Fertig. Ein kleiner Stapel Brennholz, ein großer Haufen unbrauchbarer, verkohlter Balken. Ina lässt die Axt fallen, setzt sich, zieht das Tuch vom Mund. Taucht die Hände in einen Eimer Wasser, reibt Ruß und Schmutz ab, so gut es geht, betrachtet ihre roten Handflächen. Die abgebrochenen Fingernägel, einen alten Kratzer am rechten Unterarm. Sie ärgert sich, dass sie sich zuerst gewaschen und nicht getrunken hat, wartet, bis die schwarzen Rußteilchen im Eimer etwas abgesunken sind, schöpft Wasser mit beiden Händen, trinkt. Das Wasser schmeckt nach erloschenem Feuer, es kratzt im Hals. Sie richtet ihren Blick in den Himmel, dessen Blau ihr in den Augen sticht, streckt die Beine aus, massiert ihre Arme. Das Holz wird sie später hineintragen, vielleicht morgen, vielleicht auch erst in einigen Tagen, sie wird es sorgfältig stapeln, einen guten Teil davon gleich neben den Ofen legen, damit es bereit ist, wenn über Nacht die Kälte kommt.
Aber noch ist es warm, obwohl die Sonne bereits flach über dem Wald steht: Fichten, Kiefern, Tannen, Zwergsträucher und Moos. Vereinzelte gelbe Lärchen.
Borealer