Der Himmel ist ein kleiner Kreis. Carolina Schutti
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Читать онлайн книгу Der Himmel ist ein kleiner Kreis - Carolina Schutti страница 4
Ina blickt in die Richtung, in der sie die Winterstraße vermutet, als könne sich ihr Blick durch das Gebüsch schlagen, durch den Wald schlängeln, als wäre ihr Blick ein Geräusch, das der Wind in die Ferne trägt.
Meine Computerzeit ist aus, wir sitzen auf dem Sofa in der Besucherecke, in der nie Besucher sind. Mark hört mir zu. Ein letztes Mal noch, ein vorletztes Mal, genau wissen wir es nicht. Ich zwinge mich dazu, die Gelegenheit zu nützen, obwohl ich heute eigentlich nicht reden will, obwohl alles in einem Nebel versinkt und ich nicht einmal genau weiß, was ich tatsächlich erzähle und was nur in meinem Kopf ist, welche Tentakel der Geschichte sich um meinen eigenen Hals legen und welche sich nach meinem Gegenüber ausstrecken.
Mark zieht seine Jacke aus, legt sie neben sich, starrt auf den Boden. Ich kauere im Schneidersitz in der Ecke, knete meine Fußsohlen, schließe die Augen. Ich beginne mit dem alten Ölfass, das ist eine gute Geschichte, sie hat einen Anfang und ein Ende, und sie verrät nichts über mich. Ich erzähle, wie ich in diesem Fass stehe, wie mich der Kran in die Höhe zieht, wie ich die Schrauben löse, wie ich den Windmesser, das Fähnchen, alle kleinen Rädchen und Stäbchen in meine Bauchtasche stecke. Wie das Fass hin und her schwankt, wie ich Angst bekomme, wie unten der Kranführer steht, die Fernbedienung in der Hand. Wie ich brüllen muss, damit er mich endlich wieder hinunterlässt: Der Mast ist fertig. Fertig!
Wie sie mich immer wieder in dieses Fass stecken, weil ich die schlanksten Finger habe und weil ich nie eine Schraube verliere, weil ich die Geeignetste für diese feinen Arbeiten bin.
Ich will hobeln! Ich will lackieren!
Die Kontrolle schleicht durch den Gang, klimpert mit dem Löffel in der Kaffeetasse, ich warte, bis sie im nächsten Gang verschwunden ist, dann erzähle ich vom Wetterleuchten über dem See, erzähle, wie oft der Leuchtturm blinkt: neunzig Signale pro Minute. Sturmwarnung. In der Ferne schäumen bereits die Wellen, die Halbinsel ist nicht mehr zu sehen, die Häuser nicht, die bei Schönwetter wie pastellfarbene Zündholzschachteln aussehen und einen perfekten Hintergrund abgeben für ein Foto mit Linienschiff, Raddampfer, Segeljacht.
Jetzt ist der See leer. Und ich hänge an dem Kran, zitternd vor Angst, unter mir das Hafenbecken, die Rampe aus grauem Beton.
Neunzig Signale, neunzig!
Wir hören schon rechtzeitig auf.
Und weiter geht es, luftig in die Höhe, mein Magen dreht sich, alles schwankt, eine Mutter will sich nicht lösen, ich muss den Handschuh ausziehen, auch den zweiten, mit klammen Fingern drehe ich am Gewinde, Regen setzt ein, ich habe keine Hand frei, mit der ich die Kapuze aufsetzen könnte, der Regen tropft auf den Scheitel, auf die Stirn, mein Nacken wird nass, die Schrauben vor allem, die Finger, es dauert eine Ewigkeit, bis ich den Windmesser in die Bauchtasche stecken kann. Unten steht jetzt ein Zweiter, sie rauchen, unterhalten sich, zwei schwarze Kapuzen, niemand sieht mir zu, ich muss hinunterrufen: Fertig!, hören sie mich nicht?, immer mit der Ruhe, kein Stress, der Kran bringt mich zum Nachbarboot, ein Windmesser noch, dann noch einer, dann klettere ich aus dem Ölfass, jemand muss es festhalten, damit es nicht kippt, ich verliere trotzdem das Gleichgewicht, schlage mit dem Kinn am Boden auf.
Sie wollen dir helfen, sagt Mark.
Das sagt er zum ersten Mal.
Ich fange irgendetwas Neues an, sagt Mark.
Ich starre auf meine Füße.
Du kannst dich in einen Bus setzen und irgendwo aussteigen. Keiner kennt dich. Du erlebst etwas, eine tolle Geschichte, ein Abenteuer.
Er zeigt mit dem Finger auf den schwarzen Bildschirm.
Will ich das? Will ich nicht. Muss ich mich rechtfertigen dafür, dass ich es hier ganz angenehm finde? Muss ich nicht. Ich presse meine Lippen aufeinander, bis sie schmerzen, und Mark spricht nicht weiter, legt mir wortlos seine Jacke auf den Schoß.
Das war kein Motorengeräusch: kein Geländewagen, kein Motorrad, nichts, nur das Knarren von Holz, das Rauschen des Blutes in den Ohren, ein Windstoß, der draußen eine Plane hebt.
Ina löst sich aus ihrer Erstarrung, kniet sich wieder auf den Boden, wühlt mit beiden Händen im Fellhaufen. Sie sucht nach einem länglichen Stück, zieht ein Teil heraus, es ist ein Fellstück mit Krallen: eine, zwei, drei, die vierte abgebrochen, die fünfte fehlt. Es knackt zwischen den Schneiden der Schere, als sie die Pfote abtrennen will, sie setzt die Schere weiter oben an, knapp über dem Knochen, drückt sie durch Leder und Fell. Rötliche Haare rieseln auf ihre Hand, bleiben an ihr kleben.
Die Jacke, an der sie näht, liegt auf der schweißfleckigen Matratze, die sie in die Mitte des Raumes gezogen hat. Blasse Lichtstreifen fallen schräg durch die verschmutzten Fenster, auch hier drin ist es heiß, die Sonne erhitzt erbarmungslos das flache Dach aus Metall.
Ina reibt sich die Augen, sie tränen von den stechenden Ausdünstungen des Pulvers, das aus den Fellteilen rieselt, sobald sie eines davon in die Hand nimmt.
Sie legt das zugeschnittene Stück an die Längsseite des unfertigen Ärmels, beginnt mit der Naht. Die gegerbte Haut bietet einigen Widerstand, obwohl sie die Nadelspitze immer wieder schräg am Schleifstein schärft, damit sie besser durch das Leder schneiden kann.
Machen die Fischer ihre Jacken wie sie? In wochenlanger Arbeit während des Sommers? Sie hat keine Fischer gesehen, während der gesamten Reise nicht, aber es muss sie geben, vielleicht kommen sie erst im Winter auf das Land, wenn das Meer zu rau ist, sich ihnen mächtig entgegenwirft, Hering und Dorsch für sich behält, dann gleiten sie auf ihren Schlitten über das Eis, über zugefrorene Flussarme und Seen, hängen ihre Netze in kleine Löcher, die sie eilig vergrößern, wenn ein guter Fang sie überrascht. Sie stellt sich vor, wie sie in ihren dicken Jacken und Hosen dem Schneesturm trotzen, wie die Fische erstarren, sobald sie aus dem Wasser gezogen werden, wie sich die Männer beraten, wie sie nach Bären spähen, wie sie plötzlich wieder verschwinden, wenn eine Wolkenwand tief wie Nebel hängt.
Die Mühe, die sie mit den kleinen Fellstücken hat. Sie erinnert sich an ihre Enttäuschung, als sie den Sack öffnete, kurz nachdem Boris sich davongemacht hatte: nichts als Reste, kleine Schnipsel, Pfoten und Schwänze, wild gezackte Streifen, übrig gebliebene Ränder von Mänteln oder Mützen oder Stiefeln. Ihr Gebrüll, das Boris nicht mehr erreichte. Die herumfliegenden Fetzen, ihre Fäuste an der Wand. Es gab nichts in ihrer Reichweite, das sie zerschlagen, nichts, gegen das sie treten konnte, und so schlug sie an die Ziegelmauer, bis sich die Haut am groben Putz abrieb, rote Spuren hinterließ, bis sie Boris’ Stimme zu hören glaubte, die minutenlang dasselbe sagte: Lass es, hör auf, hör auf, hör auf!
Boris traf keine Schuld, natürlich nicht, sie hätte genauer in den Sack schauen sollen, dieses sinnlose Vertrauen dem Verkäufer gegenüber, vielleicht auch ihre Sturheit, sich entgegen Boris’ Rat für die Felle zu entscheiden anstatt für eine der dick gefütterten Jacken, die in Stapeln auf dem Boden lagen.
Sie sieht den Mann noch vor sich: auf seinem Klappstuhl sitzend, in Tarnkleidung, eine Schildmütze tief in die Stirn gezogen. Fest verknotete Säcke umgaben ihn, einige Stiefelpaare, Zigarettenstangen. Er zeigte lachend seine Goldzähne, als er ihr den Jutesack reichte, und sie dachte, das sei ein Zeichen