Ostprinzessinnen tragen keine Krone. Cornelia Heynen-Igler

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Ostprinzessinnen tragen keine Krone - Cornelia Heynen-Igler

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Müßig zu erwähnen, dass ich das generische Maskulinum nicht gewählt habe, weil mir das Männliche lieber wäre als alles andere, aber das sollte nach der Lektüre der vorliegenden biografischen Erzählung auch so zum Ausdruck kommen.

       1. IM LABYRINTH DER GESCHICHTE(N)

      Nie lassen wir uns so vorbehaltlos auf andere Menschen und ihre Geschichten ein, wie dann, wenn unser eigenes Leben aufgelaufen ist.

      In jenem Sommer, als ich Katjas Leben betrat, wie eine linkische Statistin die große Bühne, befand ich mich selbst in einem Zustand zwischen Ratlosigkeit und Resignation. Was sollte ich mit meiner Zeit jetzt noch anfangen? Ich war vor Kurzem neunundvierzig geworden, mit Jahrgang 1969 war ich gleich alt wie Katja. Nur, dass ich im Gegensatz zu ihr mein Leben vertan hatte, jedenfalls kam mir das schon nach unserer ersten Begegnung so vor. Ich hatte mich eben von meinem langjährigen Gefährten getrennt, fast genauso uninspiriert, wie ich mit ihm zusammengelebt hatte, und wir blieben Freunde, ohne dass wir das jemals gewesen wären. Er zog in ein Loft nach Zürich-Wollishofen, und ich blieb in der kleinen Wohnung in Kloten, die ich von meinen Eltern geerbt hatte.

      Da saß ich also an einem ungewöhnlich warmen Freitagnachmittag Ende Mai 2018 in meinen vier Wänden und durchforschte das Internet nach neuen Jobs, Kleidern, Männern, als auf einmal das Telefon klingelte. Der ungewohnte Klang ließ mich zusammenzucken; wer ruft denn heute noch auf dem Festnetz an? »Ja!«, rief ich unwillig in den Hörer, um dem Anrufer gleich zu verstehen zu geben, dass ich heute weder in Stimmung für Verkaufsgespräche noch für Meinungsumfragen war. »Bist du’s, Brigitte?«, sagte eine rauchige Stimme, die durchaus als männlich hätte durchgehen können, wenn ich Svenja nicht gleich an der Art erkannt hätte, wie sie meinen Vornamen aussprach.

      Sie sagte »Brigitt« in der Art, wie wir es auf Schweizerdeutsch aussprechen, ohne »e« am Schluss und mit untermauertem »t«, was bei ihr als Deutsche immer etwas aufgesetzt klang. Aber mein Name war auch das einzige Wort, das sich Svenja auf Schweizerdeutsch auszusprechen bemühte. Ansonsten sprach sie ein überaus gepflegtes Deutsch; man merkte ihr den ostdeutschen Akzent schon lange nicht mehr an, wohl, weil sie sich ihn bewusst abgewöhnt hatte. Ursprünglich stammte sie aus dem Osten Deutschlands, aus Dresden genau. Ich hatte sie anfangs der 1990er-Jahre in einem Hotel im Berner Oberland kennengelernt, wo wir beide für eine Wintersaison angestellt waren, sie als Barfrau, ich als Hotelassistentin.

      Ich erinnere mich noch genau an den Moment, als Svenja durch die Eingangstür in die holzgetäfelte Halle des behäbigen Viersternehotels inmitten der Berner Alpen trat: Es war, als hätte sich Homers schöne Helena in die schnöde Realität verirrt. Ich hatte mir die schöne Helena in den nicht enden wollenden Schulstunden meiner Jugend stets mit dunkelblondem Haar und bernsteinfarbenen Augen ausgemalt, so wie diese hier, die durchaus als altgriechisches Ideal von weiblicher Anmut hätte durchgehen können. Sie stellte sich als Svenja M. vor; sie sei so deutsch wie ihr Name, sagte sie, »leberwurstdeutsch«, wie sie lächelnd hinzufügte, und es sei nun an der Zeit, etwas weniger deutsch zu werden. Die Ebenmäßigkeit ihrer Züge verlieh ihr etwas Stolzes, ja geradezu Edles. Das Auffälligste an ihr aber war ihre Haltung; sie bewegte sich, als trüge sie eine Krone auf dem Kopf, was sie noch größer erscheinen ließ, als sie ohnehin schon war. Der Hoteldirektor geriet bei ihrem Anblick ganz aus dem Häuschen, weniger in der Aussicht auf ein amouröses Abenteuer, als vielmehr in Erwartung traumhafter Bar-Umsätze. Letztere sollten sich jedoch nie einstellen, denn obschon die Gäste – vorwiegend die männlichen – erst in Scharen kamen, um sich von der Mund-zu-Mund übertragenen Kunde von der Schönheit der neuen Barfrau höchstselbst zu überzeugen, hielt sich der Gästezulauf danach in Grenzen. Svenja nahm Bestellungen mit demselben gleichmütigen, fast abwesenden Ausdruck entgegen wie Schmeicheleien, Anträge oder Neckereien. Sie hatte, ohne im Mindesten abweisend oder überheblich zu wirken, etwas Erhabenes an sich, was Männer und Frauen gleichermaßen einzuschüchtern schien. Nur mit mir zog sie nach Feierabend manchmal noch um die Häuser; dann tanzten und tranken wir bis in die frühen Morgenstunden, ohne uns je mit anderen Leuten abzugeben oder irgendwelche Typen mit nach Hause zu schleppen. Wir waren uns selbst genug. Am Ende der Saison war der Hoteldirektor froh, uns beide endlich loszuwerden; sie, weil sie alles andere als seine Umsatzzahlen im Kopf hatte, und mich, weil er mir wohl insgeheim die Schuld dafür gab.

      »Stell dir vor, ich bin in Zürich!«, teilte mir Svenja an jenem viel zu warmen Nachmittag im Mai 2018 am Telefon mit ihrer angenehm rauchigen Stimme mit, was nichts anderes heißen konnte, als dass sie im »Dolder« oder im »Baur au Lac« abgestiegen war. Meist hatte ihr Mann – ein um viele Jahre älterer Italoamerikaner, der in der Nahrungsmittelindustrie zu einem immensen Vermögen gekommen war – für die Familie gleich ein paar Suiten nebeneinander reserviert. Svenja, die ein paar Jahre älter war als ich, war inzwischen schon zweifache Großmutter, und nichts war ihr neben ihrem tiefen Glauben an Gott wichtiger als die Familie. Vorbei die Zeiten, als wir in glitzernden Miniröcken und pinkfarbenen Pumps durch die Berner Nachtläden zogen, dachte ich und starrte auf meine Fußnägel, die gelblich und ungepflegt aussahen. Ob ich mich auch so verändert hatte wie Svenja? Wohl kaum, mein Leben war ja auch weit weniger spektakulär verlaufen als ihres …

      »Und«, fragte Svenja, »hast du nächstens Zeit für einen Drink in der ›Schweizerhof‹-Bar? Du weißt schon, das Fünfsternhotel am Zürcher Hauptbahnhof … Katja kommt auch!«

      »Ach«, stieß ich überrascht hervor, »deine Freundin, die ominöse Tochter des DDR-Vizeadmirals?«

      »Genau die«, erwiderte Svenja, »es wird Zeit, dass ihr euch endlich kennenlernt!«

      »Allerdings«, entgegnete ich, »du hast mir ja nur immer in Bruchstücken von ihr erzählt, meist, wenn ihr zusammen auf Reisen wart. Aber ehrlich, ich kann mir unter der Frau immer noch nichts vorstellen, das klingt alles irgendwie so widersprüchlich …«

      Svenja lachte. »Das kann ich mir denken«, erwiderte sie, »mach dir einfach am besten selbst ein Bild von ihr. Am Samstagvormittag um elf Uhr in der ›Schweizerhof‹-Bar?«

      »Gern«, murmelte ich.

      Ich freute mich tatsächlich, Svenja nach all der Zeit wiederzusehen. Wir hörten zwar sporadisch voneinander per Telefon, SMS oder Facebook, aber in Fleisch und Blut hatte ich sie jahrelang nicht mehr gesehen. Auch wenn wir seit jener Wintersaison im Berner Oberland den Kontakt nie ganz abgebrochen hatten, verband uns doch keine so tiefe Freundschaft, wie sie Katja und Svenja miteinander zu unterhalten schienen. Aber auch darüber – über die Art der Beziehung zwischen den beiden Frauen – würde ich mir am Samstag mein eigenes Bild machen können.

      Ich erkannte sie sofort, obschon ich sie noch nie zuvor gesehen hatte. Katja platzte, mit mehreren Einkaufstaschen beladen, in die gediegene Atmosphäre der »Schweizerhof«-Bar, als sei sie in höchster Eile. Später würde ich erfahren, dass diese gewisse Atemlosigkeit – der latente Eindruck, dass sie »knapp dran« sei – Teil ihres leicht erregbaren Temperaments war. Immerzu war sie gerade mit etwas beschäftigt, was ihre ganze Aufmerksamkeit und Hingabe erforderlich machte, sodass sie stets etwas erhitzt zu unseren Terminen erschien, auch wenn sie keineswegs angespannt wirkte und ausgesprochen pünktlich war. Sie vermochte sich auf der Stelle und völlig unbefangen auf ihr Gegenüber einzulassen, so wie jetzt, da sie unaufhörlich redend und lachend auf meinen Tisch zusteuerte. Sie hatte Augen wie eine Katze: grünblau oder blaugrau, vielleicht sogar fast türkisfarben, jedenfalls unaufhörlich changierend und von ungewöhnlicher Leuchtkraft. Dazu einen blassen, porzellanenen Teint und halblanges, dunkelblondes Haar.

      »Ah, endlich lerne ich dich kennen, Brigitte!«, rief sie, indem sie ihre Einkaufstaschen schwungvoll in einen Ledersessel warf und mich umarmte, als wären wir alte Bekannte. Sie fühlte sich warm und weich an, vertraut irgendwie, so ganz anders als Svenja, die ich im Umgang mit Menschen außerhalb

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