Ostprinzessinnen tragen keine Krone. Cornelia Heynen-Igler

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Ostprinzessinnen tragen keine Krone - Cornelia Heynen-Igler

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ergänzend zur Familienchronik verfasst hat, so quasi als Zusammenfassung derselben. Sie umfasst einen Zeitraum von siebzig Jahren. Ist das nicht verrückt?«

      »Allerdings«, entgegnete ich lapidar.

      »Na ja«, fuhr Katja fort, »und da habe ich entdeckt, dass ich gestern beim Erzählen einige Orte und Daten durcheinandergebracht habe.«

      »Ist doch egal«, entgegnete ich, »für mich war’s einfach interessant, etwas über deine Herkunft und dein Leben in der DDR zu erfahren. Aber schick mir die Zeittafel trotzdem, ich schmökere gern in anderer Leute Vergangenheit!« Ich sagte ihr nicht, dass ich mich noch gestern Nacht beim Nachhausekommen an den Computer gesetzt hatte, um das, was sie mir in der Bar erzählt hatte, fast wortgetreu aufzuzeichnen. Etwas in mir drängte mich, es unverzüglich zu tun; nicht aus Angst, im Lauf der Zeit Bedeutendes zu vergessen, sondern um mir beim Schreiben noch einmal die Stationen ihres Lebens zu vergegenwärtigen – so, wie wenn man einen spannenden Film gleich zweimal hintereinander sehen will, um besser auf die Details zu achten, denen man beim ersten Mal nicht genug Beachtung schenken konnte.

      Daher nahm ich Katjas Vorschlag, mir die Zeittafel zu schicken, auch dankend an, um die eigentümliche Grundmelodie dieses mir so fremden Leben strukturieren zu können, um eine Art von Übersicht zu gewinnen. Katja mailte mir die Zeittafel, die ihr Vater in zeitaufwändiger Detailarbeit angefertigt haben musste, gleich nach unserem Telefongespräch zu. Das Bedürfnis, ja der innere Drang des Gustav H., seine eigene Existenz und diejenige seiner Nächsten akribisch in Worten und Daten nachzuzeichnen, übertraf alles, was ich in privaten Archiven je gesehen hatte – zu meinem Glück. Ich ergänzte die Aufzeichnung, die ich gestern von Katjas Schilderungen gemacht hatte, mit den fehlenden Angaben und druckte anschließend das Dokument aus, um es aufs Nachttischchen zu legen wie eine Verheißung – oder wie ein »Bettmümpfeli«, wie wir auf Schweizerdeutsch sagen. Vor dem Schlafengehen würde ich das ganze in aller Ruhe noch einmal nachlesen, es erhob mich höher über meine eigene Wirklichkeit als jeder Traum.

       1.1. Aufzeichnung: Kinderjahre, Mädchenjahre (1969 – 1988)

       Samstag, 2. Juni 2018, Hotel Schweizerhof, Zürich

       »Alles fängt ja immer lang vorher an.«

       Du willst wissen, woher ich stamme? Geboren bin ich 1969 in Greifswald, das liegt zwischen den Inseln Rügen und Usedom in Mecklenburg-Vorpommern. Meine Eltern hießen Lotte-Lore, geborene Ewert, und Gustav H. Erst dachte man, meine Mutter leide an einem Geschwür; sie hatte vor mir schon zwei Kinder auf die Welt gebracht, man hatte mich nicht mehr erwartet. Die Schwangerschaft erwies sich denn auch als risikoreich, vielleicht hat das ja auf meinen Charakter abgefärbt. Aber um zu verstehen, wie das alles gekommen ist mit mir und meiner Familie, muss ich wohl noch etwas weiter ausholen. Alles fängt ja immer schon lang vorher an.

       Mein Vater Gustav H. wurde 1931 in Bodenbach im Kreis Tetschen in der ehemaligen Tschechoslowakei in eine Familie von sogenannten Sudetendeutschen hineingeboren. Sein Vater, ein Fleischermeister, starb bereits 1933, im Jahr von Hitlers Machtergreifung. Meine Großmutter war also jung Witwe geworden und führte die Fleischerei bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs allein weiter. Als die dreiköpfige Familie – mein Vater hatte noch eine Schwester namens Traudel – im Zuge der Aussiedlung aus Tschechien 1945 in Magdeburg ankam, war sie gänzlich mittellos. An der ostdeutschen Grenze hatte meine Großmutter die wenigen Habseligkeiten ins Gebüsch geschmissen, weil es hieß, dass, wer Geld auf sich trage, auf der Stelle erschossen würde. Um zum Lebensunterhalt der Familie beizutragen, durchlief der junge Gustav erst eine Bäckerlehre. Seine Mutter arbeitete in Magdeburg in einer Fleischerei, ihre Tochter Traudel half ihr dabei. Es war eine von Not und Entbehrung geprägte Zeit. Was sollte nur werden? Der siebzehn-, achtzehnjährige Gustav wusste nur eins: dass er aus seinem Leben etwas machen wollte. Das war kein diffuser Wunsch, sondern ein grimmiger Entschluss, und dass mein Vater seine Karriere später über alles – zeitweilig auch über seine Frau und seine Kinder – stellte, ist vor diesem Hintergrund zu verstehen.

       So meldete sich der junge Bäckergeselle 1950, ein Jahr nach der Gründung der Deutschen Demokratischen Republik, bei der Volkspolizei-See in Parow, einem kleinen Ort in der Nähe von Stralsund. Nach der Grundausbildung trieb Gustav H. seine Karriere zielstrebig voran: Er absolvierte einen Offizierslehrgang in Kaliningrad und wurde 1954 zum »Leutnant zur See« ernannt. Zwei Jahre später heiratete er die neunzehnjährige Lotte-Lore Ewert in Zinnowitz auf der Ostseeinsel Usedom, und noch im gleichen Jahr kam die gemeinsame Tochter Marina zur Welt.

       Noch sechsundfünfzig Jahre nach Marinas Geburt sollte meine Mutter anlässlich deren Geburtstag 2012 in ihr Tagebuch schreiben, dass Gustav damals stark angetrunken ins Krankenhaus kam, während sie am Kindbett-Fieber litt, und dass sie ihm das lange nicht verzeihen konnte. Klar, die vielen Empfänge, an denen mitunter der Alkohol in Strömen floss, gehörten zum damaligen Berufsleben meines Vaters wie die langen Seereisen und fortwährenden Ausbildungen. Als ich meine Mutter einmal fragte, wie er denn mit ihren drei Schwangerschaften umgegangen sei, rief sie spontan: »Gar nicht, er war ja nie da!«

       Tatsächlich, acht Monate nach Marinas Geburt, ließ mein Vater seine junge Frau und sein kleines Töchterchen im gemeinsamen ersten Heim in Peenemünde auf der Insel Usedom allein zurück, um an der Seekriegsakademie in Leningrad drei Jahre lang weiter zu studieren. Er kam bloß zweimal pro Jahr nach Hause, aber wenigstens konnte ihn meine Mutter in Russland besuchen. Nach Abschluss der langwierigen Ausbildung 1960 wurde mein Vater zurück in die Heimat abkommandiert – als Stabschef der Flottenbasis Ost in Peenemünde.

       Meine Schwester Marina wuchs die ersten drei Jahre ohne Vater auf. Als mein Vater in dieser Zeit einmal auf Heimaturlaub war und das Kind zurechtwies, wandte sich Marina an die Mutti und fragte: »Du, muss ich machen, was der Mann da sagt?«

       Meine Mutter hat in der ersten Zeit ihrer Ehe viel geweint, trotz der vielen Privilegien, die sie als Gattin eines hochrangigen Offiziers genoss. Sie war halt ein richtiger Lebemensch, impulsiv und sprühend. Lotte-Lore oder »Püppi«, wie sie auch genannt wurde, kam 1936 im Seebad Swinemünde zur Welt. Das liegt auf der polnischen Seite der Insel Usedom. Nach dem Krieg wurde die Familie Ewert ins nahe Ostseebad Zinnowitz auf der deutschen Seite derselben Insel ausgesiedelt. Püppi verlebte, wie sie in ihren Erinnerungen schreibt, trotz der schweren Kriegs- und Nachkriegsjahre dank der Geborgenheit innerhalb ihrer Familie eine recht unbeschwerte Kindheit. Als junge Frau hatte sie wohl viele Verehrer und wenn man Fotos von ihr aus jener Zeit betrachtet, kann man das gut verstehen. Püppi absolvierte eine Lehre als Krankenschwester, arbeitete aber nicht lange in dem Beruf, da sie meinen Vater ja mit neunzehn heiratete und kurz darauf ihr erstes Kind bekam. Erst mit über vierzig – da war ich zehn oder elf – hat sie in Rostock wieder im Krankenhaus zu arbeiten angefangen, sie hat ihren Beruf geliebt. »Du musst nicht arbeiten«, hat mein Vater oft zu ihr gesagt, »du hast doch alles!« Und tatsächlich, an Geld hat es ihr nicht gefehlt. Zudem hat mein Vater sie gern mit teuren Kleiderstoffen beschenkt und ihr aus Russland Schmuck mitgebracht. Einmal ließ er für sie einen Ring aus der Koralle anfertigen, die sie während des Kriegs im Zahn versteckt hatte. Ja, mein Vater hat seine Frau verwöhnt, wo er nur konnte.

       Trotzdem vermochten all diese materiellen Wohltaten meine junge Mutter nicht über das Alleinsein hinwegzutrösten. Da dort, wo mein Vater arbeitete, höchste Geheimhaltungsstufe herrschte, wusste meine Mutter oft nicht, wo er war und wann er heimkommen würde. Denn eins war klar: Ein Offizier der Armee war in erster Linie mit seinem Beruf verheiratet, und dem hatte sich eine Ehefrau bedingungslos unterzuordnen, so wie dem ganzen System. »In unserer Stellung kannst du keinem vertrauen«, hat uns unsere Mutter oft eingebläut. Das war wohl auch der Grund, warum sie ihr ganzes Leben

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