Verschwundene Reiche. Norman Davies
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Und doch ist das bescheidene Dumbarton einer jener ganz besonderen Orte, die die Macht haben, den krassen Gegensatz zwischen dem, was ist, und dem, was einst war, heraufzubeschwören. Die Vergangenheit ist nicht nur ein fremdes Land, von dem wir nur ahnen, dass es je existierte; sie versteckt ein weiteres verborgenes Land hinter sich, und dahinter noch eines und noch eines – wie ein Satz russischer Matrjoschkas, bei dem die größeren Puppen die kleineren in sich bergen. Und die Oberfläche zeigt nicht verlässlich an, was darunter liegt. In diesem Fall zeigt die Oberfläche ein Land, das wir als Schottland kennen. Ein anderes Land namens England liegt jenseits der Grenze. Doch Dumbarton lockt uns in eine Welt vor der »Erfindung« Englands und Schottlands.
Geologisch gesehen ist Dumbarton Rock einfach ein vulkanischer Pfropfen, der letzte Rest eines prähistorischen Vulkans, dessen äußerer Kegel im Laufe der Zeit durch Erosion abgetragen wurde. Seit der letzten Eiszeit ragt er aus der Schwemmebene am Nordufer des Firth of Clyde heraus, genau dort, wo der Leven aus den Highlands herabströmt. Strategisch war er überaus wichtig. Jahrhundertelang beherrschte er den Verkehr auf dem Firth, bewachte den Zugang zum Kerngebiet. Er schreckte Invasoren und Eindringlinge ab, die von der Irischen See aus den Fluss hinaufsegeln wollten, und er schützte all jene, die auf günstigen Wind oder die Ebbe warteten, um flussabwärts zum Meer zu kommen. Im Süden auf dem Ufer gegenüber liegen Paisley mit seiner prächtigen mittelalterlichen Abtei, Greenock und Gourock. Im Osten zieht sich Clydebank mit seinen Werften am Ufer entlang und dahinter die Großstadt Glasgow. Die Kilpatrick Hills und die »Bonnie, bonnie banks of Loch Lomond« sind im Norden zu entdecken. Im Westen kommen dort, wo sich der Firth zu einem gewaltigen Mündungstrichter verbreitert, kleine und große Inseln in den Blick, Bute, Arran und Ailsa Craig, und im fernen Nebel das einsame Mull of Kintyre. Nichts, so möchte man glauben, könnte schottischer sein.
Die Lage von Dumbarton Rock kann man aus der Luft, beim Landeanflug auf den Flughafen Glasgow, besonders gut erfassen. Die Haupteinflugschneise führt die Flugzeuge vom Norden heran, über die farngrünen Hänge auf den Punkt des Clyde zu, wo der schmale Fluss endet und der Firth beginnt. Wenn man rechts aus dem Flugzeugfenster schaut, sieht man die moderne Hängebrücke über den Clyde aus nächster Nähe und genießt einen unbeschreiblichen Blick auf die glänzenden Wasser darunter. Besonders dramatisch ist die Aussicht an schönen Sommerabenden. Der rotglühende Sonnenuntergang umrahmt die Lochs und Inseln in der Ferne. Die weite Fläche des Firth glänzt silbern, und die Zwillingsspitzen des Rock ragen gegen das Licht auf wie ein Paar ägyptischer Pyramiden.1
Der Firth of Clyde ist den Gezeiten unterworfen. Wie alle Buchten und Mündungstrichter an Großbritanniens Westküste erlebt er in sechsundzwanzig Stunden zweimal Flut und zweimal Ebbe, und diese ständige Bewegung hat nicht aufgehört, seit das Meer zum ersten Mal in diesen Teil Europas vordrang. In der Eisenzeit stand eine erste Befestigung oben auf dem Felsen; über die Jahrtausende hinweg haben Wachposten die Prozessionen von ledernen und hölzernen Booten und Kriegsschiffen beobachtet, die mit steigender Flut hereinsegelten oder mit der Ebbe hinaus. In spätrömischer Zeit warnten sie vor dem Nahen hibernischer Piraten, die die Römer Scotti nannten.A Im 9. Jahrhundert blieb ihnen wahrscheinlich vor Schreck der Atem weg, als sie die Langbootflotten der Wikinger erblickten. In jüngerer Zeit beobachteten sie die Truppentransporter und Handelsschiffe, die das Empire zusammenhielten, und die stattlichen Passagierschiffe, die auf den Atlantik hinausdampften.
Kein Wunder, dass die Stadt im Schatten des Felsen die längste Zeit vom Schiffbau lebte. Die Werft von Dumbarton war zu klein, um die großen Ozeandampfer aufzunehmen, die im nahe gelegenen Clydebank gebaut wurden; stattdessen spezialisierte sie sich auf die kleineren Dampfboote und Raddampfer, die in den letzten 200 Jahren ihren Dienst auf dem Clyde verrichteten. Das Dampferfahren »doon the watter« von Glasgow aus war lange eine typische Freizeitaktivität in dieser Region.2 Europas allererster kommerzieller Dampfbootbetrieb begann hier im Jahr 1812, als die Comet von Glasgow nach Greenock fuhr. In den folgenden Jahrzehnten wurde der Dienst nicht nur auf alle Häfen am Firth ausgedehnt, sondern sogar auf so weit entfernt liegende Hafenstädte wie Oban und Stornoway. Die rot, weiß und schwarz gestrichenen Schornsteine der Dampfer, Postboote und Fähren von David MacBraynes Unternehmen waren später überall zu sehen und zogen Millionen von Ausflüglern und Reisenden an. Das Nachfolgeunternehmen Caledonian-MacBrayne oder »Cal-Mac« gehört auch heute noch zum Lokalkolorit.3 Und noch immer gilt das Sprichwort: »Die Erde ist des Herrn und alles, was auf ihr ist, doch die Highlands und die Inseln gehören MacBrayne«.
Die Industrie breitete sich mit der Zeit auch im Vale of Leven, dem Tal des gleichnamigen Flusses, am Ufer entlang bis nach Balloch am Loch Lomond aus. Färbereien, Druckereien und Gießereien konzentrierten sich in Alexandria, Jamestown und Bonhill. Arbeiter aus dem Vale of Leven wurden in Dumbarton »Jeelies« genannt, weil sie ihre Marmeladenbrote, die jeelies, im Fabrikhof aßen, während die Einheimischen zum Mittagessen nach Hause gingen.
Es gibt keinen besseren Weg, die eigene Position historisch und geografisch einzuordnen, als eine Fahrt auf dem Dampfschiff über den Firth. Selbst eine kurze Überfahrt von Wemyss Bay nach Rothesay auf der Insel Bute oder von Ardrossan nach Brodick auf Arran ist überaus reizvoll, denn in nur etwas mehr als einer halben Stunde überbrücken die Passagiere Schottlands wichtigste Grenzlinie zwischen den Lowlands und den Highlands. Wemyss Bay in Ayrshire, 30 Meilen westlich von Glasgow, gehört zur LallansB – Heimat des Dichters Robert Burns. Rothesay und Bute gehören zur Gaeltacht – dem Land der Clans, der Tartans und der gälischen Sprache. Man sollte die Reise an einem jener »frischen« Tage machen, für die der Firth berühmt ist. Eine steife Brise bricht schon die Dünung und bläst Gischt von den Wellenkämmen. Die starke Fähre bäumt sich auf und rollt selbstbewusst unter den heiseren Rufen der Möwen und dem beißenden Geruch des Seetangs. Aschgraue Wolken jagen über den Köpfen dahin, sie ziehen zu schnell, um ihre Regenlast abzuladen; Flecken von blauem Himmel geben schmale Sturzbäche aus Sonnenlicht frei, das hier und da auf dem Wasser und auf dem leuchtenden Grün der gegenüberliegenden Küste spielt. Die weißen Bugwellen tanzen mit den weißen Segeln der Yachten, die vorübereilen. Mit festem Griff an der Reling, roten Wangen und zum Bersten gefüllten Lungen beobachtet man gebannt das Schauspiel aus Farbe und Bewegung. Ein Regenbogen glänzt über dem Wasser vor Bute. Dann legt sich eine gewisse Ruhe über die Fähre, wenn sie in den Windschatten des Hafens kommt, und man tritt, gebührend erfrischt, ans Ufer – in einem anderen Land.
Dies ist die Landschaft, die auf ewig mit dem Namen Harry Lauder (1870–1950) verbunden bleiben wird. Er war einer der berühmtesten Entertainer des frühen 20. Jahrhunderts und vermutlich der erste Sänger, der über eine Million Platten verkaufte. Lauder sang beliebte sentimentale Lieder in einem breiten schottischen Akzent und sprengte alle Klassengrenzen mit seiner einzigartigen Mischung aus Gleichmut und Zartheit.
Songs wie »I love a lassie, a bonnie Hielan’ lassie« oder »Keep right on to the end of the road« brachten ihm ein Vermögen ein, mit dem er sein Herrenhaus in Laudervale nahe Dunoon baute. Seine vielen Tourneen in die Vereinigten Staaten begannen stets mit einer Dampferfahrt den Firth hinauf von Dunoon zum Princes Pier in Greenock.
Roamin’ in the gloamin’ on the bonnie banks of Clyde,
Roamin’ in the gloamin’ wi’ ma lassie by ma side.
When the sun has gone to rest, that’s the time that I like best.
O it’s lovely to be roamin’ in the gloamin’.4C