Elbflucht. Klaus E. Spieldenner
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Monarch selbst besaß keinen Führerschein, doch während eines Urlaubs auf Rügen konnte er einige Stunden auf einem Transporter üben. Der alte Ford gehörte dem Bauern, auf dessen Hof Linda und er gemeinsam ihren Urlaub verbrachten. Linda liebte die Natur und den Umgang mit Tieren. Mallorca war nichts für sie. Eher für ihn, aber er hatte stets Lindas Wünsche respektiert und sich nach ihr gerichtet. Monarch erzählte dem Bauern, er wolle sich auf die Fahrprüfung vorbereiten, und steckte ihm fünfzig Euro zu. Wenn der Wagen auf dem Hof stand und ihn keiner benötigte, durfte Monarch nun seine Runden drehen. Aber nur auf dem großen Gelände, das zum Bauernhof gehörte. Linda hatte geschmunzelt, als sie ihrem Mann bei seinen Fahrkünsten zuschaute.
Der Daily fuhr sich anders als der alte Ford Transit vom Bauernhof. Spritziger, direkter. Gerade sauste Monarch mit zu hoher Geschwindigkeit in Höhe der Strandperle unter der Autobahnbrücke der A 7 durch, als – wenige Hundert Meter vor ihm – unvermittelt Blaulicht auftauchte. Sein Herz rutschte in die Hose und er trat voll auf das Bremspedal. Es war seine erste Vollbremsung und dafür gelang sie – so fand er – recht gut, nur dass der Transporter nun quer auf der Straße stand. Er hielt den Atem an. So vieles ging ihm durch den Kopf. Das Blaulicht konnte alles bedeuten. Ein Autounfall, ein Krankenwagen unterwegs, um einen Herzinfarktpatienten abzuholen. Aber sie konnten auch schon hinter ihm her sein. Hatte Wowering – der militante Handygegner – doch ein Smartphone eingesteckt?, fragte sich Monarch. Mit zittrigen Händen machte er sich daran, den Kastenwagen zu drehen. Sein Herz raste noch immer und er bemühte sich, einen klaren Gedanken zu fassen. Sein Fahrzeug blockierte den ersten Pendlern die Straße, doch endlich war die Richtungsänderung geschafft und der Transporter kam wieder in Bewegung. Wenn sie jetzt schon nach ihm fahndeten, wovon Monarch ausging, machte es keinen Sinn, den kürzeren Weg über die A 7 einzuschlagen. Er kannte sich in Hamburg gut aus. Zwar eher als Fußgänger denn als Autofahrer. Das Navi könnte helfen, ging es ihm durch den Kopf. Aber er müsste anhalten, um es genau zu programmieren. Wowering hatte ihm das beigebracht. Wowering fiel ihm ein. Der Kollege lag wenige Hundert Meter entfernt, und er fuhr zurück zu ihm. Siedend heiß lief es seinen Rücken herunter. Im Geiste sah er Dutzende von Polizeibeamten mit ihren Einsatzfahrzeugen, die die Elbchaussee gesperrt hatten. Und er fuhr mitten hinein. Es galt einen Bogen um den Ort des Überfalls zu schlagen. Mit einer spontanen Lenkbewegung bog er rechts ab in die nächste Seitenstraße. Auf einem Schild, das Reste des Abblendlichts zusammen mit einer Straßenlaterne beleuchtete, glaubte er etwas von ,Lüdemann‘ gelesen zu haben. Es war ihm egal, es galt einfach nur, die Elbchaussee zu umfahren. Schon nach wenigen Hundert Metern auf den Pflastersteinen ging es nicht mehr weiter. Er stoppte den Wagen, noch immer außer Atem, öffnete das Fenster etwas, sog die kühle Luft ein, um herunterzufahren. War er mit dem Transporter in eine Sackgasse geraten? Ja, es sah so aus. Doch zum Glück war das Blaulicht hinter ihm verschwunden. Aber was nun? Das eingeschaltete Navi vor ihm zeigte eine Grünanlage quer zur Elbe an und nur ein schmaler Weg führte durch den Park hindurch. Monarch hakte beide Ellenbogen im Lenkrad ein und legte sein Kinn in die Handflächen. Was für ein Mist! Es war kurz vor fünf Uhr und er stand mit dem entführten Werttransporter vor diesem Park. Aber jammern nutzte nichts. Er gab sich einen Ruck, schaltete die Warnblinkanlage ein und setzte den Wagen vorsichtig auf den Schotterweg. Es musste der Park beim ,Leuchtturm Pagensand-Süd‘ sein, das Navi zeigte nichts Genaues darüber an. Rechts durch die Seitenscheibe erhob sich hinter den hohen Kastanien die Kuppel der Seniorenresidenz Augustinum. Hier waren Linda und er oft spazieren gegangen. Damals noch gesund und glücklich. Ein einzelner Hundebesitzer sprang erschrocken zur Seite. Er hatte ihn übersehen, musste unbedingt aufpassen. Einen verletzten oder gar toten Parkbesucher konnte er schon gar nicht brauchen. Er reduzierte die Geschwindigkeit des Fahrzeugs etwas. Das Licht des Kastenwagens bohrte sich zwischen den Büschen und Bäumen entlang. Zweige schlugen wie verlängerte Arme an das Blech des Fahrzeugs. Die Geräusche klangen ähnlich einem sorgenvollen Flüstern. Um sich abzulenken, bemühte er sich, die imaginären Geräusche zu entschlüsseln. Und der Weg nahm kein Ende. Dann, nach gefühlt endlosen Sekunden, zeigte das Display in der Mitte der Konsole wieder eine feste Straße an. Kaistraße, konnte er lesen. Er hatte die Stelle, an der er Wowering ins Bein geschossen hatte, großräumig umfahren.
Während er weiterfuhr, überlegte er fieberhaft, welche Möglichkeit sich bot, die Elbe zu überqueren. Er kam zu dem Entschluss, nur die Freihafenelbbrücke kam infrage. Doch dafür musste er komplett durch die HafenCity fahren. Sicher würde die Polizei schon Straßensperren aufgebaut haben und auf ihn warten. Er hatte doch alles so gut geplant, was war bloß falsch gelaufen? Er drückte am Lenkrad die Nägel der Daumen in die Haut der Zeigefinger, bis es schmerzte. Nein, er würde aus keinem Traum erwachen.
Monarch riss sich zusammen. Er legte den Gang ein und raste weiter. Mit überhöhter Geschwindigkeit fuhr er an den Landungsbrücken vorbei. Hier glaubte er – zu dieser frühen Stunde – nicht mit Polizei rechnen zu müssen. Er war sich absolut sicher, und tatsächlich hielt sich der Verkehr hier auch noch in Grenzen. Vor allem konnte er weit und breit keine Polizeistreife sehen. Er bemühte sich, die normale Atemfrequenz wieder zu erreichen. Die breite Straße verlockte zum Schnellfahren, lenkte er sich ab. Doch während seiner Überlegungen war er etwas auf die entgegenkommende Fahrspur abgedriftet. Ein Lkw hatte aufgeblendet, und gerade noch rechtzeitig lenkte Monarch den Wagen auf seine Spur zurück. Das Hupen des Fahrers klang noch einige Sekunden in seinen Ohren.
„Wagen siebzehn zur Sicherheitsabfrage, kommen!“
Monarch erschrak auf das Heftigste. Sein Herz geriet ins Stolpern und verursachte – zum vorhandenen Unwohlsein – noch ein Gefühl, als setze das lebenswichtige Organ jeden Moment aus.
„Das waren doch die Kollegen!“, stöhnte er laut. Mist, er hatte nicht daran gedacht, den Störsender zu aktivieren. Und natürlich war das sicher auch der Grund, warum die Einsatzkräfte wussten, wo er sich aufhielt. Was war er nur für ein Gangster! Er empfand die Stimme des Kollegen so nah, als so real, als säße der Mann hinten im Wagen und nicht Kilometer entfernt in der Zentrale. Er bremste ab, riss den kleinen Kasten vom Gürtel und fummelte ihn mit der rechten Hand aus seiner Lederimitathülle. Der Wagen schlingerte etwas, doch er bekam ihn wieder in die Spur. Der Einsatz des Jammers war sehr einfach: Einschalten und das kleine elektronische Ding störte – laut Internet-Verkäufer – jegliche gängige Benutzungsfrequenzen. Vom Handy über den Funk bis hin zum GPS-Signal. Wenn man es denn benutzte. Ob das Einschalten jetzt noch sinnvoll war? Egal, die Lautstärke des Funkgeräts stellte er auf null. Das beruhigte ihn ein wenig.
Noch immer hingen Nebelschwaden über Hamburgs Straßen. Ob sich dadurch das GPS-Signal schwerer tat, vom Wagen zum Satelliten durchzudringen? Darüber brauchte er sich keine Gedanken mehr zu machen, der Störsender arbeitete endlich. Eine grüne LED am Gerät signalisierte es ihm. Wieder fragte er sich, ob das Störsignal jetzt noch Sinn machte.
Der IVECO Daily erreichte die Otto-Sill-Brücke, schoss ohne Verzögerung aus der Kurve heraus in die Straße Kajen. Ein entgegenkommender Pkw musste stark bremsen und kam dadurch etwas ins Schleudern. Doch der Kombi fuhr weiter – zum Glück. Einen Verfolger konnte Monarch sich gerade nicht leisten. Nur wenige Minuten war sein Schuss auf den Kollegen her. Er hatte Wowering in den Oberschenkel getroffen, das war nicht lebensgefährlich. Sicher hatte die Polizei den Kollegen am Überfallort schon erstversorgt. Monarch schickte ein Stoßgebet zum Himmel, flehte, dass der Kollege keine bleibenden gesundheitlichen Schäden behielt.
Monarch atmete tief ein, fühlte, dass die Großstadt inzwischen munter wurde. Nach dem Tode Lindas war es für ihn – den Hamburger – wie eine täglich stattfindende Reanimation. Von der Dunkelheit zurück ins helle Leben und wieder