Elbflucht. Klaus E. Spieldenner

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Elbflucht - Klaus E. Spieldenner

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von Gewebe an den Knochen, daher meine Zeitschätzung. Ich möchte mich da aber noch nicht festlegen.“

      „Wie kommst du anhand der Knochen so schnell darauf, dass es sich um zwei Leichen handelt?“

      „Sie waren in Decken gehüllt und lagen etwa 1,50 Meter voneinander entfernt. Ich habe mir – was die Knochen betrifft – einen kurzen Überblick verschafft, und schnell war mir klar: Da liegen zwei Leichen!“

      „In Wolldecken eingehüllt?“

      „Ja, Sandra! Und diese dicken Wolldecken, wie ich sie auch vom Militär kenne, halten für einige Zeit Maden, Würmer usw. vom Gewebe ab. Aber dann ...!“

      „Wie tief lagen die Leichen?“

      „Etwa einen Meter unter der dicken Sandschicht.“

      „Begünstigen Tiefe, Sand und Decken in diesem Fall den Verwesungsprozess?“

      Sandra wunderte sich etwas, wie sie um diese frühe Zeit schon solche hoch intellektuellen Fragen stellen konnte.

      „Natürlich! Während Leichen, die zwischen 30 und 60 Zentimeter tief begraben liegen, innerhalb einiger Monate skelettiert sein können, dauert es bei Tiefen von einem Meter und mehr oft Jahre. Und Sand beheimatet eher weniger kleine Krabbeltiere – zumindest anfänglich!“ Der Rechtsmediziner war in seinem Element.

      „Mich wundert, dass die Insassen den Verwesungsgeruch beim Sport nicht wahrgenommen haben?“, wollte die Kommissarin wissen.

      „Nein, aber das ist nicht überraschend, Sandra. Aus einer Tiefe von einem Meter dringen kaum Gerüche nach oben. Vor allem, da der Sand dichter ist als zum Beispiel weiche Erde, wie wir sie in unseren Wäldern vorfinden. Und im Gegensatz zu Wohnungsleichen spielt der stetig wehende Wind eine große Rolle. Speziell hier oben im Norden. Eher hätte ich damit gerechnet, dass ein Wachhund den Geruch erschnüffelt und Alarm geschlagen hätte.“

      Sandra war bemüht, aufkommende Gähn-Serien zu unterdrücken. Fischer hätte glauben können, sie interessiere sich nicht für seine Ausführungen. Sie spürte schon leichte Krämpfe im Kiefergelenk. Sebastian Fischer selbst hatte den Kopf nach hinten gelehnt und schien nachzudenken.

      „Haben die denn überhaupt Hunde hier?“ Sandra hörte in die Stille des Hofes hinein, aber kein Hundegebell war zu hören.

      Fischer zuckte mit den Schultern. „Manchmal wundert es mich schon, dass die Bewohner eines Gebäudes, in dem schon monatelang eine Leiche verwest, nichts riechen. Wenn wir Rechtsmediziner, aber auch die Bestatter das Gebäude betreten, schlägt uns schon im Flur sofort der üble Geruch entgegen.“

      „Dein Resümee, Basti?“ Die Kommissarin glaubte für den Anfang genug gehört zu haben.

      „Nun, die beiden wurden vor acht bis zehn Jahren hier abgelegt und vergraben. Sie waren damals bekleidet, ich würde mal auf Anstaltskleidung tippen. Man hat sie noch zusätzlich in Wolldecken eingewickelt. Hier vor Ort ihr Alter zu definieren, ist unmöglich, das muss im Butenfeld nach eingehender Untersuchung geschehen. Ich tippe jedoch auf zwei Männer, da es sich ja hier um ein reines Männergefängnis handelt. Einer groß, vielleicht etwa 1,80 bis 1,85 Meter. Der andere sicher unter 1,70 Meter.“ Der Rechtsmediziner schaute Sandra fragend an.

      „Ist das nicht äußerst ungewöhnlich, zwei Tote in einer Strafanstalt? Verbuddelt auf einem Sportplatz, auf dem wohl täglich Hunderte Gefangene herumlaufen?“

      „Natürlich, dasselbe habe ich mich auch schon gefragt.“

      „Wie lange hätte es gedauert, bis sich auch die Knochen aufgelöst hätten?“

      Fischer grinste wie ein junger Schüler, der endlich vom Lehrer nach dem Gedicht gefragt wurde, das er stundenlang auswendig gelernt hatte.

      „Liebe Sandra! Knochen bestehen vor allem aus Kalziumphosphat. Sie sind also mineralisch und können im eigentlichen Sinne des Wortes nicht verwesen. Kalziumphosphat ist nur wenig wasserlöslich und baut sich im Erdreich nur langsam ab. Für Pflanzen ist es ein wichtiges Mineral und fördert – normalerweise – die Auflösung von Knochen. Wenn das nicht so wäre, wäre die Erde in vielen Gegenden meterhoch mit Knochen bedeckt. Aber hier in der Sandgrube ...!“

      „Wer hat die Leichen gefunden?“

      „Soviel ich weiß, wurden sie heute Nachmittag bei Baggerarbeiten ausgegraben!“

      „Heute Nachmittag? Warum meldet man uns das erst so spät bzw. so früh am nächsten Tag, und was wird denn hier überhaupt gebaut?“

      „Da musst du die Anstaltsleiterin fragen. Ich glaube, man wollte da etwas vertuschen, aber bevor ich mich zu weit aus dem Fenster lehne, frag doch Kriminalrat Jensen.“

      Jensen stand plötzlich wie hergezaubert neben den beiden.

      „Ich habe Ihre letzten Worte gehört, Dr. Fischer. Es ist tatsächlich wahr, Sandra. Die Verantwortlichen der Haftanstalt wollten das Ganze verschleiern oder zumindest verzögern. Erst einer der Baggerfahrer, derjenige, der die beiden Skelette gefunden hat, rief die Polizei. Hatte wohl ein schlechtes Gewissen. Und was die Baumaßnahmen hier angeht, sprach die Anstaltsleiterin vom Neubau der Sportanlage.“

      „Warum hat sie uns den Fund nicht sofort mit­geteilt?“ Sandras Kopf wies auf Frau Dr. Lönderer, die wie versteinert nun auch am Rande der Grube aufgetaucht war.

      „Nun, sie wusste es wohl auch nicht früher.“ Jensen hatte zur Anstaltsleiterin geschaut und diese nickte stumm.

      „So wie ich vermute, war die Tagschicht der Anstalt etwas überfordert und hat erst einmal Schweigen angeordnet.“ Wieder sprach der Kriminalrat für die Anstaltsleiterin mit. „Aber das ist noch zu klären. Ich habe Frau Lönderer gebeten, die komplette Tagschicht heute im Laufe des Tages hier in der JVA Fuhlsbüttel zur Vernehmung antanzen zu lassen. Sie erklärte mir, dass es zwölf Beamte seien.“

      Sandra war überrascht: Nur zwölf Beamte bewachten die gesamten Strafgefangenen hier? Sie hatte noch die Zahl um vierhundert Häftlinge im Kopf. Aber vielleicht hatte sich Jensen auch verhört. Sie nickte zustimmend und der Kriminalrat schien zufrieden.

      „Wenn alle Fotos im Kasten sind, würde ich die Leichenreste ins Butenfeld bringen lassen. Leider kann ich erst übermorgen mit einer Untersuchung beginnen, Herr Jensen“, mischte sich Dr. Fischer wieder ein.

      Jensen horchte auf.

      „Sie müssen wissen, ich fliege um zehn Uhr nach Stuttgart, muss dort den Kollegen bei der Obduktion eines verstorbenen Politikers helfen. Wurde von oben ...“, Sandra folgte Fischers Blick an den Himmel, „... angeordnet!“

      „Sie wissen schon, werter Dr. Fischer, was die Presse in wenigen Stunden mit uns macht?“

      „Da bin ich schon im Ländle!“, grinste der Rechtsmediziner.

      „Sie sind gut raus!“ Jensen wandte sich ab und verließ die Grube.

      „Kannst du mich nicht mitnehmen nach Stuttgart?“

      „Nur zu gerne, Sandra!“, antwortete Sebastian Fischer.

      Die Kommissarin ärgerte sich maßlos über ihren Ausbruch an Blödheit.

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