Den Kopf hinhalten. Jens Rosteck
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Das also war es, was Serafina und Gennarino mir zeigen, das war es, womit sie mich überraschen wollten. Sie waren wie verwandelt: So fröhlich und sorglos hatte ich sie noch nie erlebt. Sie kreischten vor Vergnügen und spritzten mich nass. Sie rannten, der Vater mit durchnässten Hosenbeinen, die Mutter mit gerafftem Rock, durch die kleinen Wellen, die sich kräuselten und um meine Knöchel schlängelten. Es fühlte sich seidig an, und es kitzelte.
„Sandro, mach doch mit!“ Sie liefen umher wie spielende Kinder, jagten und verfolgten sich, bewarfen sich mit Sandklumpen, betrugen sich wie herumtollende Hundewelpen.
Ich war noch ganz in den Anblick des gigantischen Blaus vertieft. Ich blieb stehen, als hätte ich einen Stock verschluckt.
Meine Eltern ließen sich ins flache Wasser fallen und zogen mich zu sich herab. Es war überraschend lau. Abwechselnd umarmten sie sich und mich. Eine Woge schwappte über mich hinweg, ich bekam keine Luft. Nur für ein paar Sekunden.
„Nicht schlucken, das ist salzig!“, warnten sie mich.
Serafina weinte, keuchte und kicherte in einem fort, feuchte Strähnen klebten ihr am Kopf, ihr nackter Busen war ihr aus der Bluse gerutscht, sie ließ es geschehen, Gennarino küsste sie auf den Hals, küsste sie auch auf die Brustwarze und mich auf beide Augen, wir ließen es geschehen, aber selbst ein Kind sah, dass meine Mutter schon lange nicht mehr so erleichtert gewesen war. So gelöst und so entspannt. Und selbst ein Kind verstand, dass ein Mann eine solche Frau einfach lieben und begehren musste. Auch wenn das womöglich schon lange her war.
Das Bad am Strand hatte ihre Zuneigung wieder angefacht. Eine Zuneigung, der sie daheim in den Bergen, wenn sie sich im Alltag gegenseitig zur Schnecke machten, lediglich nachtrauern konnten. Das neckische Liebesspiel im seichten Gewässer hatte ihre Erinnerung an frühere Verführungsrituale wiederbelebt.
Nicht nur mit Serafina und Gennarino, auch mit mir war eine grundlegende Veränderung vorgegangen: Jetzt hatte ich sehen gelernt. Ihr Plan war aufgegangen: Jetzt hatte ich eine Ahnung davon bekommen, was echte Schönheit war.
Wir drei blieben noch den ganzen Tag in Bordighera. Und auch den nächsten. Danach dauerte es wieder Jahre, bis ich diese Küste erneut zu Gesicht bekam. Oder überhaupt irgendeinen Ozean oder Strand. Meine Emotionen vergaß ich aber auch zwischendurch nicht. Nicht das Blau und nicht das Glück. Das Blindekuh-Spiel war vorbei.
In Paris lernte ich meine zweite Lektion. Ich ließ mich aufs Neue verführen. Paris wurde zu meinem zweiten Meer.
Im Studio nahm ich allmorgendlich an meinem Flügel Platz, einem bildschönen, uralten und bestens erhaltenen Érard. Und spielte stundenlang. So inspiriert wie selten. Wie jemand, der gerade erfahren hat, dass er für alle Zeit unverwundbar bleiben wird. „Wie ein junger Gott“, pries der Aufnahmeleiter mich und meine Interpretation. Fast immer, da stimmten er und ich überein, erwies sich der erste Take auch als der beste, der brauchbarste. Also nickten wir, hoben den Daumen als Zeichen der Zustimmung und wandten uns dem nächsten Stück zu. Ich fühlte mich federleicht. Alles gelang mir.
Der Zufall wollte es, dass auch der Toningenieur Italiener war. Und hochgradig freundlich. Der bärtige und stämmige Enzo, ein paar Jahre älter als ich, lebte schon seit der Nachkriegszeit hier und hatte keinerlei Berührungsängste. Er war wohl an die Anwesenheit von Starpianisten gewöhnt und verlor während der Aufnahmesessions in seinem Reich hinter der Glasscheibe kaum ein Wort über die Qualität meines Spiels. Für ihn verstand sich das von selbst. Unbeeindruckt von den Fachdiskussionen, die ich mit dem künstlerisch Verantwortlichen der Plattenfirma, dem Produzenten und den Werbeleuten führte, verrichtete er im Hintergrund schweigend seine Arbeit, drehte aber sofort auf, sobald die Mittagszeit nahte und die anderen Herren verschwunden waren.
Enzo duzte mich, freute sich sehr, endlich einmal wieder für einen Landsmann die Mikrofone und Regler zu betätigen, lud mich mehrfach zum Mittagessen ein, in einem einfachen Arbeiterlokal beim Gemüsemarkt in der Rue Poncelet, und, was viel wichtiger war, er hatte mich, wie er unumwunden zugab, von den ersten Stunden an in sein Herz geschlossen.
Wie ein Familienmitglied behandelte er mich und ging davon aus, dass auch ich ihm grenzenloses Vertrauen schenken würde. Kaum war ich bei ihm im Studio erschienen, ließ er, noch ein wenig übernächtigt, alles stehen und liegen, brachte mir Kaffee, erzählte mir von seiner Familie in Catania, die er selten sah, und von seiner Flamme, einer drallen und pausbäckigen Blonden. Von der er mir eine verblichene, an den Ecken eingerissene Fotografie zeigte und die, wie er vorgab, als zersägte Dame in einem Variété am Pigalle auftrat. Auch bei ihr, bei Nathalie, schien es sich um ein Phantom zu handeln, denn nie stellte er sie mir vor. Und in seine kleine, angeblich so gemütliche Wohnung im Marais bat er mich auch nicht.
Lieber versorgte er mich mit Tratsch und Nachrichten.
„Sandro, hast du eigentlich mitbekommen, dass gestern Stalin gestorben ist?“, rief er, schon bei unserer zweiten Begegnung, ganz aufgeregt und hielt mir die Titelseite des Figaro unter die Nase.
Als er merkte, wie verdutzt ich ihn anschaute, weiteten sich auch seine Augen.
„Und nicht nur das!“, ereiferte er sich. „Stell dir vor, auch Prokofjew ist tot! Beide am selben Tag!“ Darüber berichteten die Pariser Tageszeitungen wie Le Monde und France Soir natürlich nur unter ferner liefen.
Ich wusste auf die Schnelle kaum, welche Nachricht größere Besorgnis bei mir auslösen sollte. Aber wenn ein Komponist, dessen Werke ich verehrte und auch gerne öffentlich vortrug, das Zeitliche segnete, war das für meine empfindsame Pianistenseele immer eine beklagenswerte und auch unverständliche Nachricht.
Doch Enzo war kein Kind von Traurigkeit. Er fand, dass ich nicht die geringste Ahnung von Paris hatte. Was sich seiner Meinung nach schleunigst ändern musste. Und er und nur er, so hatte er bereits entschieden, ohne meine Einwilligung abzuwarten, würde dafür sorgen. Alles, was ich zu tun hatte, war, ihm zu folgen und mitzumachen – und darin war ich ja geübt. Jeden Abend fing er mich vor meinem Hotel ab und führte mich in die verborgensten Winkel seiner Lieblingsviertel.
Bis in die frühen Morgenstunden waren wir unterwegs. Enzo nahm mich mit in Cabarets, Puffs, Billardhöhlen, Nachtschwärmer-Lokale und, wenn auch die dichtmachten, in stickige Kellerkneipen ohne Schild an der Eingangstür und ohne Klingel, in die man mithilfe eines bestimmten Klopfzeichens hereingelassen wurde und in denen schwarze US-Musiker bis zum Umfallen höllisch guten Bebop spielten. Dutzende von Paaren tanzten dort im Tabaknebel eng an eng auf zwanzig oder dreißig Quadratmetern, bei den langsamen Nummern auch Männer mit Männern und Frauen mit Frauen. Zu trinken gab es wenig, zu essen so gut wie nichts.
Am Ende, wenn wir nicht links der Seine im „Tabou“ strandeten, landeten wir immer in der Rue de Lappe, gleich hinter der Bastille. Rechts vom Fluss. Dort, in der „Boule Rouge“, schenkte ein alter, gichtkranker Bretone Rum in klitzekleinen Gläsern und starken Kaffee in Blechbechern aus, ein Teller mit fettigen Würstchen wurde herumgereicht, aber niemand griff zu, Schnapsleichen lagen unter den Tischen, im Hinterzimmer spielten Lastwagenfahrer Poker, es roch nach Erbrochenem und der kalten Asche von Gauloises.
Es war eine Reise in die Pariser Unterwelt. Nirgendwo zahlten wir Eintritt oder mussten anstehen; überall schien man uns zu erwarten. Von Nathalie gab es auch weiterhin keine Spur. Aber Enzo, mein heiterer Charon, hatte viele andere Freundinnen. In jeder Bar mindestens eine. Frauen ohne männliche Partner oder Begleiter. Gott weiß, womit er sie bestach oder sie sich gefügig machte.
Manchmal